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Michael Vesper, 61, ist seit 2006 Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes. Der studierte Soziologe gehörte 1979 zu den Gründungsmitgliedern der Grünen. In Nordrhein-Westfalen war er zwischen 1995 und 2005 Bauminister und stellvertretender Ministerpräsident.

© dpa

Doping in der BRD: "Die Forscher sollen alles zugänglich machen"

DOSB-Generaldirektor Michael Vesper spricht im Tagesspiegel-Interview über den Umgang mit den Forschungsergebnissen zum Doping in der alten Bundesrepublik.

Herr Vesper, wie erklären Sie es sich, dass der Deutsche Olympische Sportbund und Sie als Generaldirektor sich nun rechtfertigen müssen, die Forschungsergebnisse zum Doping in der alten Bundesrepublik erst mit Verzögerung zur Kenntnis zu nehmen, obwohl Sie doch die Studie mit in Auftrag gegeben haben?

Das irritiert mich auch ein wenig. Denn der DOSB und namentlich Thomas Bach als Präsident hatten diese Studie ja vor einigen Jahren angeregt, weil wir uns unserem Erbe stellen und Klarheit gewinnen wollten. Wir werden die Studie nun sehr genau auswerten. Es ist eben ein sehr komplexes Thema. Was mich besonders bedrückt, ist die Aussage, dass auch an Minderjährige Dopingmittel verabreicht worden sein sollen. Gerade deshalb müssen wir uns damit auseinandersetzen.

Die Historiker der Berliner Humboldt-Universität und der Universität Münster haben sich lange mit dem Thema beschäftigt, trotzdem will der DOSB jetzt eine Kommission einrichten, die die Ergebnisse noch einmal bewertet. Zeugt das nicht vom Misstrauen gegenüber den Historikern?
Nein, die Kommission soll die Arbeit nicht bewerten, sondern uns als DOSB-Präsidium helfen, die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen.

Aber warum braucht man diese Kommission? Kann das Präsidium nicht bessere Schlüsse daraus ziehen, Sie haben doch mehr sportpolitische Kompetenz als der Vorsitzende Udo Steiner, ein ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht?
Wir wollen von vornherein jedem Verdacht begegnen, dass wir nur interessengeleitet vorgehen, darum möchten wir unabhängigen Rat. Herr Professor Steiner kennt sich im Sport aus. Er leitet ja auch unsere unabhängige Kommission zur Überprüfung von Trainern und Offiziellen mit Dopingvergangenheit. Wir fangen auch nicht bei null an. Vieles, was in der Studie steht, ist ja im Übrigen schon bekannt.

Fast alles sogar. Gerade deshalb ist es doch verwunderlich, dass es einer weiteren Kommission beim DOSB bedarf. Viele Erkenntnisse der Forscher decken sich doch mit dem, was Gerhard Treutlein und Andreas Singler schon im Jahr 2000 der Öffentlichkeit vorgestellt hatten oder Brigitte Berendonk sogar schon in den 70er Jahren.
Sie haben recht, vieles ist in den genannten Studien schon dargelegt worden. Uns ging es darum, noch einmal alle Quellen auszuwerten und einen systematischen Überblick vor allem über Doping in Westdeutschland vorzulegen. Der Bericht hat insgesamt über 500 Seiten. Hinzu kommt der Zwischenbericht der Berliner Forschungsgruppe mit 800 Seiten, der bislang offenbar nur einer Zeitung vorliegt.

Noch einmal: Muss dafür wirklich eine neue Kommission eingesetzt werden?
Wer A sagt, der muss auch B sagen. Wenn man ein solches Projekt initiiert und das zu einem solch umfangreichen Bericht führt, muss der auch im Einzelnen ausgewertet werden – und zwar so, dass man den Autoren und auch denen, die beschuldigt werden, gerecht wird. Das ist keine Vertagungstaktik. Es geht um Seriosität.

Der an der Studie beteiligte Sporthistoriker Erik Eggers hat Ihnen in einem Beitrag für unsere Zeitung vorgeworfen, Sie hätten die Forschergruppe diffamiert, bevor Sie die Ergebnisse gelesen haben. Sie wollten keine „Kriminalromane“, hätten Sie gesagt.
Der Eindruck ist falsch. Bei der Vorstellung des dritten Zwischenberichts, den die Berliner Forschungsgruppe gar nicht abgeliefert hatte, habe ich deutlich machen wollen, dass es sich um eine wissenschaftliche Grundsatzarbeit und nicht um eine journalistische Recherche handeln soll. Es geht um die Strukturen des Dopings. Das hat die Münsteraner Forschungsgruppe, deren Arbeit leider in der Berichterstattung stark übersehen wird, ziemlich gut herausgearbeitet.

Dennoch erinnert der Tenor der aktuellen Diskussion an den Streit um die Medaillen-Zielvereinbarungen bei den Olympischen Spielen in London, als es eher um Formalismen als um Inhalte ging, nämlich welche Institution wann wie viel veröffentlichen darf.
Aber da sind wir in diesem Fall nun wirklich raus. Wir haben die Studie angeregt. In Auftrag gegeben und finanziert hat sie das BISp, das Bundesinstitut für Sportwissenschaft. Und wie immer in solchen Fällen veröffentlichen die Forscher ihre Ergebnisse und müssen dann auch dafür geradestehen. Deshalb irritiert mich die Frage der Forscher, wer ihnen denn nun Rechtsschutz für ihre Veröffentlichungen gibt. Jeder muss für das einstehen, was er erarbeitet und in die wissenschaftliche Diskussion bringt. Für die in einem neuen Haus eingebaute Heizung haftet auch der Klempner und nicht der Bauherr.

Sind Sie dennoch dafür, dass die fehlenden Seiten mit den Zeitzeugenberichten jetzt auch noch ins Internet gestellt werden?
Ja, aber das ist Sache der Forscher selbst. Wir sind für volle Transparenz. Es wäre gut, wenn der Bericht nicht nur einer Zeitung vorliegen würde, sondern der gesamten Öffentlichkeit. Wir fordern die Forscher auf, die Studie für alle zugänglich zu machen.

Vieles aus dem westdeutschen Doping wird aber gar nicht mehr nachzuzeichnen sein, weil Akten vernichtet wurden oder Zeitzeugen verstorben sind oder nicht mehr reden wollen, während das Doping der DDR durch die Stasi feinsäuberlich dokumentiert wurde.
Genau deshalb haben wir doch die Studie initiiert. Ich warne aber auch davor, Doping in Ost- und Westdeutschland einfach gleichzusetzen. In der DDR gab es einen Staatsplan, der Doping von oben verordnet hat. Was jetzt im Westen in Rede steht, ist eine Dopingforschung auf Antrag von Wissenschaftlern. Die haben entsprechende Projekte beantragt, die dann vom BISp genehmigt wurden und für die öffentliche Mittel bereitgestellt wurden. Das ist schlimm genug und hart zu kritisieren, aber das ist Bottom-Up und nicht wie in der DDR Top-Down.

"Es ist nie zu spät, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen"

Es berührt das Gerechtigkeitsempfinden in Ostdeutschland, dass beim DDR-Doping jeder verdächtige Name sofort durch die öffentliche Manege gezerrt wurde, während die Aufklärung im Westen erst einmal Jahrzehnte dauerte und jetzt immer noch diskutiert wird, welcher Name wie wo veröffentlicht werden darf.
Das kann ich verstehen, das liegt vor allem an der akribischen Dokumentation durch die Stasi. Aber schauen Sie, der DOSB ist 2006 gegründet worden, 2008 haben wir die Studie auf den Weg gebracht. Es ist sicherlich spät, das gebe ich zu. Aber es ist nie zu spät, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Der DOSB selbst konnte es kaum früher.

Ist es nicht ein Armutszeugnis für den westdeutschen Sport, dass es erst jetzt diese Bemühungen gab?
Man hätte die Initiative früher ergreifen sollen, ja. Aber andererseits haben Sie selbst gesagt, dass wir nicht bei null angefangen haben, es gab auch vorher schon Studien und Erkenntnisse.

Das waren aber private Initiativen. Gerhard Treutlein und Andreas Singler können viel davon berichten, wie sehr Sie bei Ihrer Aufklärungsarbeit auch von Sportverbänden behindert wurden.
Umso höher sind ihre Verdienste einzuschätzen, die Forschung durchgeführt zu haben. Jetzt war es richtig, einen umfassenden Überblick anzuregen.

Aber ist es dann nicht ein Vermittlungsproblem des DOSB, dass er seine aktive Rolle in diesem Prozess nicht darstellen konnte?
Wieso? Wir werden auch von den Berliner Forschern ausdrücklich dafür gelobt, dass und wie wir unsere Akten zur Verfügung gestellt haben. Wir haben voll kooperiert und da, wo es Schwierigkeiten gab, zu vermitteln versucht. Nur sind wir eben weder formeller Auftraggeber, noch diejenigen, die forschen. Das sollten unabhängige Leute tun, wir beschäftigen uns dann mit dem Ergebnis.

Was ist mit der Aufarbeitung des Dopings nach 1990? Es gibt noch keine Klarheit, warum dazu nicht mehr geforscht wurde?
Das Berliner Teilprojekt krankte von Beginn daran, dass der Projektleiter fachfremd war und vor Ende des Projekts aus der HU ausgeschieden war. Die Münsteraner Forscher haben Verlängerungsanträge zur Fortsetzung ihrer Forschung gestellt, diese Mittel sind auch bewilligt worden. Auch für das Berliner Projekt hätten Mittel zur Verfügung gestanden, aber sie sind nicht beantragt worden.

Was sind jetzt die nächsten Schritte?
Wir müssen die Studie jetzt sorgfältig auswerten. Das kann man nicht in wenigen Tagen. Wir haben aber in den vergangenen Jahren schon einiges gelernt. Das Doping-Kontrollsystem ist deutlich besser geworden. Die Gesetzgebung ist mit der in den 80er und 90er Jahren nicht mehr zu vergleichen. Die Abstände zu den Dopern sind geringer geworden.

Die Berliner Forscher fordern in ihrem Schlussteil weitere gesetzliche Maßnahmen. Und Sie?
Die Forderung hört sich erst einmal gut an, aber die Forscher leiten sie nicht her. Man muss wissen, dass die Gesetzgebung 2007 und 2013 verschärft worden ist. Wir haben alle Möglichkeiten bis hin zur Telefon- und Videoüberwachung, um an die Hintermänner heranzukommen und den Sumpf trocken zu legen. Unsere Auffassung ist bekannt, der Sport kann den gedopten Athleten mit einer internationalen Sperre schneller und effizienter bestrafen als der Staat. Diese Sperre trifft ihn härter als eine Geldbuße.

Am Anfang Ihrer Zeit als Generaldirektor beim DOSB haben Sie sehr pragmatisch eine Entschädigung für DDR-Dopingopfer ausgehandelt und damit einen quälenden Prozess beendet. Jetzt sieht Ihre Rolle anders aus.
Es gibt immer mal schwierige Situationen. Aber auch hier waren wir Handelnder, indem wir die Studie initiiert haben.

Werfen Sie sich in der Kommunikation zur aktuellen Studie etwas vor?
Als die „Süddeutsche Zeitung“ ihren Artikel am Samstag veröffentlicht hat, kannte ich die 800 Seiten Bericht noch gar nicht, weil der im wissenschaftlichen Projektbeirat lag und alle eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben haben.

Das Gespräch führte Friedhard Teuffel.

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