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Flying Scotsman

© Cental

Radsport: Der traurige Supermann

Mit gebastelten Rädern brach er Rekorde. Doch die dunkle Seite des Radsports trieb den Schotten Graeme Obree fast in den Tod. Eine Geschichte fürs Kino – und ein Lehrstück vor der Tour de France.

Ein Mann stapft durch den Wald, auf der rechten Schulter balanciert er ein Fahrrad, in der linken Hand trägt er einen Strick. Eine Kapuze verdeckt sein Gesicht. Der Mann passiert die Bäume, man sieht ihre Kronen nicht, sondern nur die schweren, massiven Stämme. An einem bleibt er stehen, er stellt das Fahrrad zur Seite und wirft den Strick über einen Ast. Er prüft die Schlinge. Passt. Der Mann blickt nach oben. Nur noch ein paar Sekunden, und alles ist vorbei.

Schnitt.

Wer diese Szene sieht, den friert es, auch im warmen Kino. Der Mann mit dem Strick ist Graeme Obree. Der arbeitslose Amateur, der Mitte der Neunzigerjahre den Radsport durcheinander bringt. Der aus Alteisen und Teilen einer Waschmaschine ein Rad bastelt, mit dem er den Stundenweltrekord bricht und Weltmeister wird. Der vom Weltverband geknechtet und betrogen wird. Der wieder aufsteht und ein grandioses Comeback feiert. Der depressiv ist und zum Strick greift.

Der Regisseur Douglas Mackinnon hat einen Film über Graeme Obree gedreht. Jonny Lee Miller, bekannt aus „Trainspotting“ spielt die Hauptrolle. Am Donnerstag kommt „Flying Scotsman“ in die deutschen Kinos. Bei der Premiere in Edinburgh ist Graeme Obree, der fliegende Schotte, ganz langsam über den roten Teppich gelaufen. Vorbei an den Kameras und Scheinwerfern, die Schauspieler in seinem Gefolge. Er denkt gern an den roten Teppich, aber auch ein wenig irritiert: „Das war wie in Hollywood.“

Ist der Film auch Hollywood? Nein, sagt Obree. „Es ist eine schottische Geschichte vom Scheitern und Zurückkommen. Ich mag den Film. Fast alles ist wahr, bis auf zwanzig Prozent.“ Doch auch diese zwanzig Prozent jenseits der Kinowelt sind es wert erzählt zu werden.

Ein Gespräch mit Graeme Obree artet schnell in einen Monolog aus. Er hält ihn auf freundliche Art in seinem melodiösen schottischen Akzent. Ein sanftes Stakkato, unterbrochen von kurzen Atempausen. Man spürt die Energie, die Kraft, die er als Athlet einmal auf die Pedale übertragen hat. Jetzt ist er 41 Jahre alt, das schüttere Haar gibt die Stirn frei. Dem Gespräch hat er nur unter einer Voraussetzung zugestimmt: keine Frage zu seinen psychischen Problemen.

Er wird von selbst damit anfangen.

Graeme Obree wächst in der schottischen Grafschaft Ayrshire auf. Ein Außenseiter, der sich nur im Radklub akzeptiert fühlt. Er verbringt Stunden auf dem Rad, denkt an Gott und die Welt und wie es wohl wäre, nicht mehr auf dieser Welt zu sein. Obree ist 21 Jahre alt, als er in der Garage seiner Eltern den ersten Selbstmordversuch unternimmt. Er inhaliert Acetylen-Gas, aber der Vater findet ihn rechtzeitig. Der Arzt verspricht, den Vorfall aus der Krankenakte zu entfernen.

Obree sagt, er habe nie gewusst, was Depressionen überhaupt sind. Wie soll man das einem Außenstehenden erklären? Er wählt einen ungewöhnlichen Vergleich: Wie soll man einem Kind das Phänomen Orgasmus erklären? „Die Depressionen kamen einfach“, immer schneller, immer öfter. Vor allem, wenn er sich betrinkt. Im Delirium fühlt er sich als Versager, als einer, der seine liebsten Mitmenschen belastet. Erst die Eltern, später Frau und Kinder. Auf dem Rad holt er sich Selbstvertrauen. Und das bisschen Preisgeld, das die Familie zum Überleben braucht. Obree hat keinen Trainer und keinen Sponsor, seine Räder bastelt er selbst. Einmal dreht er den Lenker nach unten und beugt sich wie ein Skifahrer in der Hocke nach vorn. Er spürt, wie der Widerstand des Windes nachlässt. Wenn Obree sich bei Tempo 50 in die Kurve legt, sieht er aus wie Superman. Genauso werden die Fans den Stil später nennen.

Auf die Idee mit dem Stundenweltrekord bringt ihn ausgerechnet sein britischer Rivale Chris Boardman. Der Engländer gewinnt 1992 bei den Olympischen Spielen in Barcelona Gold auf der Bahn. Weil Obree daheim oft nur knapp gegen Boardman verloren, manchmal aber auch gewonnen hat, merkt er zum ersten Mal, wie gut er selbst sein könnte. Olympia ist weit weg, Obree will den Stundenweltrekord, den sein Jugend-Idol Francesco Moser 1984 aufgestellt hat. 51,51 Kilometer. Ein knappes Jahr lang lebt er nur für diesen Rekord. Er baut ein neues Rad zusammen. Sind die Konstruktionszeichnungen von damals noch vorhanden? Obree lacht. „Es gibt keine Zeichnungen, das Ding ist in meinem Kopf entstanden.“

Jetzt kommt die Waschmaschine ins Spiel. Im Kino ist zu sehen, wie Obree daheim auf dem Sofa in die rotierende Wäschetrommel starrt und eine Erleuchtung bekommt. Die nächsten Einstellung zeigt seine fassungslose Frau, die vom Einkauf nach Hause kommt und ihren Mann mit Schraubenschlüsseln vor den Resten der Familien-Waschmaschine sieht. Die Wirklichkeit ist unspektakulärer. Obree braucht schmale Kugellager, um die Beine möglichst eng an den Rahmen zu pressen. „Ich hatte nicht viel Geld und musste gebrauchte Teile nehmen.“ Auf der Suche nach billigem Material schlachtet er auch eine alte Waschmaschine hinter seiner Werkstatt aus. Die Kugellager passen perfekt. Als das Rad fertig ist, meldet Obree für den 16. Juli 1993 seinen Rekordversuch an. Er muss eine vom Weltverband akzeptierte Bahn mieten. Die einzige, die frei ist, ist das olympische Eisstadion in der norwegischen Stadt Hamar.

So richtig ernst nimmt niemand den Schotten. Die Herren vom Weltverband lachen, als er in Hamar sein selbst gebasteltes Rad auf die Bahn stellt, er nennt es „Old Faithful“. Treue Seele. Den Rekord aber geht er mit einem Nachbau an, ohne den Rahmen aus Alteisen und die Kugellager aus der Waschmaschine. Obree findet keinen Rhythmus auf der neuen Rennmaschine. Er fährt bis an die Schmerzgrenze und verpasst den Rekord um zwei Runden. Es ist dies nur auf den ersten Blick ein Moment der Tragik. Denn jetzt wird Graeme Obree zur Legende. Er sieht Old Faithful an der Bahn stehen, und als er zu den ersten Interviews vor die Kameras gezerrt wird, beschließt er einfach: Ich versuche es noch mal. Mit meinem Rad. Am nächsten Morgen, bevor die Herren vom Weltverband nach Hause fliegen.

Die Stundenfahrt gilt selbst Radsporthelden wie Eddy Merckx, Francesco Moser oder Miguel Indurain als das grausamste Leiden, dass sich ein Fahrer zufügen kann. 60 Minuten volles Tempo, der Fahrer spürt jeden Muskel. Zwei Versuche binnen 22 Stunden – genauso gut könnte man in derselben Zeit zwei Marathonläufe absolvieren. Obree legt sich ins Bett und trinkt einen Liter Wasser, denn er muss alle zwei Stunden die Muskulatur dehnen, und kein Wecker funktioniert so gut wie eine volle Blase. Am nächsten morgen steht er um neun Uhr auf der Bahn, dreht drei Proberunden und erlebt die längste Stunde seines Lebens. Die Beine brennen. Füße, Hände und Genitalien werden taub, der Schmerz in den Muskeln wird unerträglich, aber Obree hält durch und verbessert Mosers Bestleistung um fast 500 Meter. Im Film springt der entthronte Italiener um den Schotten herum, er herzt und küsst und beglückwünscht ihn. „Ach was, er war gar nicht da“, sagt Obree. „Es waren neun Zuschauer in der Halle, darunter meine Frau, ihre Mutter und die Zeitnehmer.“

Zwar unterbietet sein alter Rivale Boardman nur sechs Tage später den Weltrekord, aber das interessiert Obree nicht. „Ich wollte den Rekord nicht halten, ich wollte ihn brechen.“ Im August, fünf Wochen nach Hamar, wird er in Genf Weltmeister in der Einerverfolgung, er erhält Einladungen zu lukrativen Rennen und hat zum ersten Mal im Leben Geld. In Bologna lernt er Francesco Moser kennen. Obree weiß nicht, wie er reagieren soll, „ich konnte kein Italienisch, also habe ich Francesco einfach mein Rad in die Hand geschoben. Alles nur ein Spaß, verstehen Sie?“ Moser zögert einen Augenblick, dann stopft er sich die Hosenbeine in die Strümpfe, steigt auf und dreht einen Runde auf Old Faithful. Das Publikum rast, Moser lobt das Rad, er wird später selbst auf einem Nachbau experimentieren und darauf Rennen fahren, als 43-Jähriger. Graeme Obree weiß nicht, ob er vor Freude lachen oder weinen soll.

Aber die Dämonen lauern im Hintergrund. Sie jagen Obree, lassen ihn nicht entkommen. Das folgende Jahr wird zum furchtbarsten seines Lebens. Persönlich, weil sein Bruder bei einem Autounfall ums Leben kommt. Und sportlich, weil der Weltverband UCI mobil macht gegen den Selfmademan Graeme Obree.

Erst erkennt die UCI ihm nachträglich den Weltrekord ab. Die Gralshüter des Radsports stören sich an der Ästhetik des Schotten und verfügen, man müsse jederzeit zwischen den Armen und dem Brustkorb das Oberrohr des Rades sehen können. Das ist bei Obrees Stil nicht möglich. Also konstruiert er ein neues Rad, bei dem die Arme auf einer Art Triathlonlenker weit vorn liegen. In Bordeaux holt er sich den Stundenweltrekord zurück, aber wieder greift die UCI ein. Diesmal heißt es, beim Fahren müsse zwischen Oberarmen und Körper Sonnenlicht sichtbar sein. Obree fährt dennoch zur Weltmeisterschaft nach Sizilien und wird noch vor dem Start disqualifiziert.

Im Film ist der UCI-Präsident die sadistische Karikatur eines eitlen Wichtigtuers, er heißt Ernst Hagemann und kommt aus Deutschland. Deutsche geben immer prima Bösewichter her. Der richtige UCI-Präsident in den Neunzigerjahren war der Holländer Hein Verbruggen.

Obree träumt von der Tour de France, von einem Sieg beim Prolog, wie ihn Boardman geschafft hat. Doch ein Engagement beim Profiteam „Le Groupement“ scheitert schon nach ein paar Wochen. Obree sagt, der Groupement-Profi Robert Millar habe ihn zum Doping aufgefordert. Ein Schotte, ausgerechnet. Er habe abgelehnt und danach nie wieder etwas von einem Profiteam gehört. „Das war mein Problem: Ich war zu oft zu anständig. Viele unanständige Fahrer haben mich um meine Karriere betrogen.“ Im Film isst Graeme Obree ständig Sandwiches mit Orangenmarmelade mit viel Zucker. Er sagt, an Doping habe er nie auch nur gedacht.

Gegen alle Widerstände von außen und die quälenden Depressionen von innen schafft Graeme Obree, was kaum einer für möglich hält: ein sensationelles Comeback. Er konstruiert ein neues Rad, das den Bestimmungen der UCI genügt. Er trainiert so hart wie nie zuvor in s einem Leben und wird 1995 in Bogota zum zweiten Mal Weltmeister. Als Hagemann/Verbruggen ihm die Hand schütteln muss, kostet Obree diesen Moment mit einer Mischung aus Ekel und Triumph aus.

Doch die Dämonen kehren zurück. Obree verfällt wieder dem Alkohol, mit Mühe und Not qualifiziert er sich für die Olympischen Spiele in Atlanta. Nach der Eröffnungsfeier klettert er im Olympischen Dorf auf einen Fenstersims und sinniert, was bei einem Sprung aus dem vierten Stock so alles passieren könnte. Ein Teamkollege kommt ins Zimmer und reißt ihn aus allen schwarzen Gedanken. Olympia wird für den Weltmeister ein Desaster. Er scheidet im Vorlauf aus.

Unaufhaltsam rast Obree auf der Bahn nach unten. Er macht sich selbstständig und produziert Lenkeraufsätze für den von ihm entwickelten Stil, aber die UCI verbietet endgültig die Superman-Position. Wieder sieht er sich zu einem Nichts degradiert. Obree kann nicht mehr. Vor einem Rennen in Genf schreibt er einen Abschiedsbrief an seine Familie, schluckt 112 Aspirin-Tabletten und spült sie mit reichlich Bier hinunter. Er prellt die Zeche, marschiert in einen Park und will Schluss machen, aber dafür reicht die Kraft nicht mehr. Nach drei Tagen im Krankenhaus wird der berühmte Radfahrer in die Psychiatrie verlegt.

Graeme Obree mag über diese Zeit nicht reden. Auch nicht darüber, ob sie überwunden ist. 2001 versucht er sich nochmal das Leben zu nehmen, weit weg von zu Hause in einer Scheune. Er hängt schon an einem Strick, da kommt ein kleines Mädchen vorbei und schlägt Alarm. Noch heute schämt sich Obree für den Anblick, den er dem Kind zugemutet hat.

Im Film reißt der Strick. Die Kamera blendet auf das Mädchen, auf ihre vom Schreck geweiteten Augen. Vielleicht steht die Kleine für seine richtigen Kinder, für ihr Leben an der Seite eines Vaters, der ... Stopp. Bis hierhin und nicht weiter! Genug erzählt! „Sie haben Glück, das ist das allerletzte Interview, das ich in meinem Leben geben werde“, sagt Obree zum Abschied. Wer mehr wissen will, solle ins Kino gehen. Oder seine Autobiographie lesen. Sie heißt „Flying Scotsman“, wie der Film.

Beim Schlusssatz des Buches friert es einen wie bei der Anfangsszene im Kino. Graeme Obree schreibt: „Von nun an werde ich versuchen, mein Leben um meiner selbst zu leben. Ohne den Drang, in der längsten aller Stunden meine Grenzen zu überschreiten, um mich eines weiteren Tages würdig zu erweisen.“

Flying Scotsman: ab Donnerstag in Berlin in den Kinos Cinemaxx Potsdamer Platz, Collosseum, Filmtheater am Friedrichshain, Kant und Neues Off (OmU).

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