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Sport: Ein akribischer Ästhet

Lucien Favre strahlt Ruhe aus – seine Teams lässt er dafür Unruhe verbreiten

Im Frühling 2003 war es, als der FC Zürich Lucien Favre holte. Bis dahin hatte Favre im Westen des Landes gewirkt, in der französischsprachigen Region. Er war Trainer in Yverdon und bei Servette Genf, ehe er sich nach Zürich wagte. Sein Start in der größten Schweizer Stadt verlief überaus holprig, und nur ein halbes Jahr nach seiner Amtsübernahme stand er bereits vor dem Rauswurf. „Es wäre ein Fehler, mich wegzuschicken“, sagte er damals. Nur ein Erfolg im Pokalspiel gegen das unterklassige Meyrin bewahrte ihn vor der Entlassung. Die Entscheidung, keinen Trainerwechsel vorzunehmen, sollte die Vereinsführung nicht bereuen.

Favre fand danach den Erfolg. Er bescherte dem FC Zürich drei Titel: den Pokal 2005 und die Meisterschaften in den folgenden zwei Jahren. Mit einem wesentlich kleineren Budget schaffte es Favre, den Favoriten aus Basel auszubremsen. Und nebenbei boten die Züricher auch den attraktivsten Fußball in der Liga. Oder anders gesagt: Der Trainer hatte der Mannschaft seine unverkennbare Handschrift verabreicht. Der 49-jährige Favre lässt den Fußball praktizieren, den er als feiner Techniker selber mochte. Er trug die Rückennummer 10 und war noch das, was damals als Regisseur durchging, der Spieler mit Übersicht, Intelligenz und einem Schuss Genialität.

Favre bestritt 24 Länderspiele für die Schweiz und musste seine Karriere 1991 zwangsläufig beenden. Schuld daran war ein brutales Foul von Pierre-Albert Chapuisat, dem Vater des einstigen Dortmund-Stürmers Stéphane. Favre, der eine Lehre zum Kaufmann auf dem Betreibungsamt, das Zwangsvollstreckungen durchführt, in Echallens absolviert hatte, wurde Trainer, und er versieht seinen Job mit enorm viel Akribie. Er verfügt über ein stattliches Archiv an DVDs und Videokassetten, er liebt es, über Fußball zu diskutieren, er gilt als Tüftler und Perfektionist. Favre hat sich den Ruf erarbeitet, ein Trainer zu sein, der offen ist für Neues, der Veränderungen nie negativ gegenübersteht. Und er ist zusammen mit dem ehemaligen Bundesligaprofi Ciriaco Sforza (FC Luzern) jener Coach, der in der Schweiz am stärksten auf Einheimische und die Jugend setzte.

Einer seiner Grundsätze lautet: „Wenn du gewinnen willst, musst du auch bereit sein zu verlieren.“ Fredy Bickel, der Sportchef der Züricher, sieht die hauptsächliche Stärke des Trainers in erster Linie darin, „dass er sich intensiv mit dem einzelnen Spieler beschäftigt. Er hat das Ziel, jeden einzelnen weiterzubringen.“ Gleichzeitig erklärte Bickel, dass Favre und er sehr gegensätzlich seien: „Ich bin manchmal ungeduldig, meine, jetzt müssen man vorwärts machen und entscheiden. Er ist aber genau das Gegenteil, er hat eine unglaubliche Ruhe.“

Favre, dessen Sohn Loïc (24) in Lausanne Wirtschaft studiert und dessen Tochter Virginie (26) als promovierte Biologin in Genf arbeitet, hat sich in Zürich durchgesetzt, und er hat die sprachlichen Defizite nach seiner Ankunft behoben. Er verständigt sich gut in Deutsch und hat sich in den letzten Wochen mit Privatunterricht weitergebildet. Sein Refugium aber ist die französischsprachige Romandie, Saint-Barthélemy, ein kleines Dorf mit 600 Einwohnern. Dort wuchs er auf – zusammen mit seiner späteren Frau Chantal. Mit ihr ist er seit 27 Jahren verheiratet.

Lucien Favre ist der Schweizer Coach der Stunde. Am Dienstag wurde er in Bern zum zweiten Mal in Folge zum „Schweizer Trainer des Jahres“ gewählt. Den Preis freilich nahm er nicht selber entgegen. Er ließ sich von seinem bisherigen Assistenten Harald Gämperle vertreten. Und natürlich wurde Gämperle gefragt, wo Favre denn sei. Er wisse es nicht, antwortete er und schmunzelte.

Peter Birrer[Zürich]

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