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Sport: Ein blondierter Tory denkt nur an Schach

Der englische Großmeister Nigel Short gilt bei der Qualifikation für die WM als GeheimfavoritVON MARTIN BREUTIGAM GRONINGEN.Nigel Short ist scheinbar jegliches Gefühl für die Zeit abhanden gekommen.

Der englische Großmeister Nigel Short gilt bei der Qualifikation für die WM als GeheimfavoritVON MARTIN BREUTIGAM GRONINGEN.Nigel Short ist scheinbar jegliches Gefühl für die Zeit abhanden gekommen."Fragt mich nicht, welchen Tag wir heute haben", bat der englische Großmeister nach seiner insgesamt 14.Partie bei der Qualifikation für die Schachweltmeisterschaft in Groningen (Niederlande)."Ich habe nur eines im Kopf: Schach." Tag für Tag wiederholt sich bei ihm das gleiche Ritual.Vorbereiten, das heißt Schacheröffnungen analysieren, schlafen, vorbereiten, spielen, analysieren, schlafen und so weiter.Die Abwechslung vom täglichen Pendeln zwischen dem Hotelzimmer und dem Turniersaal sei ein "belangloser Kinofilm" gewesen. Ohne Frau und Kind und ohne einen Sekundanten vertraut Short diesmal ganz auf sich allein.Das Ein-Mann-Unternehmen läuft indes besser als vorher angenommen.Die absolute Konzentration auf die Schachbretter, die für ihn derzeit die Welt bedeuten, hat sich schon gelohnt.Mit einem ungefährdeten 2:0-Sieg über den Polen Michal Krasenkow qualifizierte sich Short als erster Großmeister für das am heutigen Dienstag beginnende Halbfinale."Die Stellung war eigentlich langweilig, dann hat er überzogen", kommentierte Short seine zweite Partie, in der er mit einem Springeropfer Krasenkows König zu Leibe rückte."Michals Problem war, daß er die erste Partie verloren hatte und unbedingt gewinnen mußte." Mit Viktor Kortschnoj, Alexander Sokolow, Alexander Beljawski und Krasenkow schaltete Short vier Spieler aus, die für ihn eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit haben."In den Runden, die ich nun hinter mir habe, gewann ich gegen einen Schweizer, einen Russen, einen Slowenen und gegen einen Polen", zählte er auf."Aber wißt ihr auch, daß das früher alles Sowjets waren." Schon vor einigen Jahren fand der 32jährige Gefallen an der Rolle des "Russen-Killers"; auch halb ernst gemeinte Aussprüche wie vom "Reich des Bösen" gab er von sich.Noch immer ist Short Mitglied der Konservativen Partei Englands, obwohl sein neuerdings verändertes Outfit anderes vermuten läßt.Seitdem seine Haare orange-gelb blondiert sind, sieht er nämlich nicht gerade so aus, wie man es von einem typischen "Tory" erwartet."Das ist absolut nicht relevant", wehrt Short mit strengem oxford-englischen Tonfall die Frage ab, ob er nun eher einem Punker oder dem Rennfahrer Villeneuve ähnele.Dabei gibt Short in diesen Tagen Gas wie kein anderer."Ich habe von den letzten neun Partien acht gewonnen", verweist er nicht ohne Stolz auf eine beeindruêkende Bilanz.Umgerechnet 240 000 Mark hat er sich in den vergangenen 14 Tagen schon verdient.Wenn er auch noch das Halbfinale übersteht, gäbe es das Doppelte. Gar eine Millionenbörse winkt dem, der am 3.Januar in Lausanne (Schweiz) FIDE-Weltmeister Anatoli Karpow (Rußland) zum eigentlichen WM-Finale herausfordern wird.Und selbst den hat Short schon einmal in einem Wettkampf geschlagen.Im Jahre 1992 besiegte er Karpow, den erfolgreichsten Turnierspieler aller Zeiten, mit 6:4.Anschließend qualifizierte er sich für das WM-Finale gegen Garri Kasparow.Doch damit begann zugleich sein sportlicher Abstieg.Short und Kasparow verließen den Weltschachbund (FIDE) und gründeten die Professional Chess Association (PCA).Finanziell hatte sich dieser Entschluß für Short seinerzeit gewißt bezahlt gemacht.Schachlich sank der Brite dagegen fortan fast ins Mittelmaß.Das Finale gegen Kasparow verlor er deutlich, aus der FIDE-Rangliste wurde er gestrichen.Es gab vorübergehend kaum noch Turniereinladungen und wenn doch, so wurde er auch schon mal Letzter.Seitdem Short 1995 sein Amt als PCA-Direktor abgegeben hat, geht es für den einstigen "Wunderjungen", der sich schon als Siebenjähriger manchmal zwölf Stunden täglich mit Schach beschäftigte, wieder aufwärts. Für die Experten vor Ort ist er längst Geheimfavorit.Die Form der Konkurrenten wie zum Beispiel die des Topfavoriten Viswanathan Anand, der im anderen Halbfinale steht, will Short nicht kommentieren.Für die nächsten Partien hat er dagegen wieder ein verblüffend einfaches Rezept parat: "Ich werde versuchen, meine Figuren auf normale Felder zu stellen."

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