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Sport: Eine neue Liga ist wie ein neues Leben

Der Osten blutet aus, auch im Fußball – da machen schon kleine Siege die Fans selig

Ein großes Jahr für den Ost-Fußball, dieses 2005. Das kann niemand leugnen, der objektiv genug ist, Jena-Fan zu sein. Zwar stieg mit Hansa Rostock der letzte Ostklub aus der Bundesliga ab. Dafür hat sich der FC Carl Zeiss Jena in die dritte Liga aufgeschwungen – ein glorioser Erfolg, der auch dem 1. FC Union gelingen könnte. Vorerst freut man sich an der Wuhlheide auf das immergrüne Sympathie-Duell mit dem BFC Dynamo. Die vierte Liga macht’s möglich.

Fußballgeschichten sind Autobiografien, im Osten wie im Westen. Ich war neun, als ich zu Jena fand. Diese lebenslange Haft begann am 8. Mai 1965, dem Tag der Befreiung. Jena spielte im DDR-Pokalfinale gegen Magdeburg, in Berlin. Ich saß beim Nachbarn auf der Fernsehcouch. Onkel Krems unterstützte Magdeburg durch kämpferischen Verzehr von Harzer Bieren. Das Spiel war Vorprogramm für die Ankunft der Friedensfahrer. Schon nahten die Fahrer. Es stand 1:1, Verlängerung drohte, da pfiff Schiedsrichter Riedel in der 90. Minute flugs Elfmeter für Magdeburg. Die Entscheidung. Onkel Krems jubelte: Jetzt kotzt Jena ab! Dieser Tätersatz trieb mich für immer zu den Opfern.

Vorerst waren’s ja keine. Jena wurde 1968 und 1970 Meister. 1972, 1974 und 1980 holten wir den Pokal. Im Europacup zerlegten wir die Elite – Ajax, Benfica, Valencia, den AS Rom – mit Dauerrenner-Fußball, der uns 1981 bis ins Finale führte. Unvergesslich im selben Jahr: die Partie bei Real Madrid, im Bernabeu-Stadion, vor 75 000 fassungslosen Spaniern. Bielau rast los, Stielike japst hinterdrein und bleibt mit Zerrung liegen, Bielau kloppt ein, Stielike muss ausgewechselt werden. Später machte Kurbjuweit unser 2:1. Real gewann 3:2 und ermauerte in Jena ein 0:0, aber was für Erinnerungen, was für Heimatsagen!

Brachial hat Honeckers Deutschland via Sport Prestige erstrebt. Mit Fußball verhielt es sich anders, da waren wir die Kleinen. Über Sparwassers 1:0 gegen den großkotzigen Westen haben sich auch viele Nicht-Parteigänger des SED-Staats gefreut. Manfred Ewald, Boss des Deutschen Turn- und Sportbundes, deckelte den Fußball zugunsten „medaillenintensiver“ Sportarten. Fußball-Schutzpatrone waren die SED-Bezirksfürsten, die eifersüchtig über ihre Kicker wachten. Spielerwechsel gab es kaum. Die DDR-Oberliga war die konservativste der Welt.

Mitnichten schien dem DFB der Osten hochwillkommen. Damit zwei Ost-Vereine – Rostock und Dresden – in die Bundesliga konnten, wurde das Oberhaus vorübergehend aufgestockt. Sechs weitere Klubs durften in die Zweite Liga; die Hälfte stürzte gleich ab. Die Wende bedeutete das Ende der DDR-Sportfinanzierung. Häufig verschwanden die Trägerbetriebe. Durch Naivität, Raffgier, Protz & Prunk fuhren viele Vereine an den Baum. Thom, Doll, Sammer, Kirsten – zu Dutzenden gingen die Besten nach Westen. In den Osten kamen West-Altstars und -sternchen. Man darf wohl sagen, dass Lux und Allievi bei Dynamo Dresden keine Knaller waren. Und was hätte Roland Wohlfahrt oder Didier Six zum Gesäßaufriss für Lok Leipzig treiben sollen? Dessen getürkte Tradition? Dreist taufte sich Lok (gegründet 1966) um in VfB Leipzig und nannte sich per Zugriff auf diese vakante Marke fortan „erster Deutscher Fußballmeister 1903“. Nach zweimaliger Insolvenz gab es 2004 eine Neugeburt des 1. FC Lok – in der elften Liga.

Zum Leuchtturm des Ostens wurde der FC Hansa Rostock. Des Ostens? Hansa gab sich als Nordverein und ließ Skandinavier spielen. Billig kaufen, teuer veräußern, das war Hansas Strategie. Sie ging zehn Jahre auf, mit Neuville, Agali, Rehmer, Beinlich, Pieckenhagen. Es nimmt nicht wunder, wenn ein klammer Überlebenskämpfer auch mal zu den Absteigern gehört. Der Bundesligist Hansa war für Ostler ein Identitätsanker, ähnlich wie für Korsen der SC Bastia. Daneben liebt der Ossi weiter den eigenen Verein, wie submarin der auch kickt.

Jena hatte gut in die Neuzeit gefunden. Man blieb drei Jahre in der Zweiten Liga, stieg ab und wieder auf. 1998 ging es abermals hinunter, außer für einen. Bernd Schneider wechselte zu Eintracht Frankfurt, dann nach Leverkusen. Geld sah der FC Carl Zeiss dafür keines. Beim Abstieg in die vierte Liga, 2001, sangen die Fans galgenhumorig: Eine neue Liga ist wie ein neues Leben. Das neue Leben führte uns nach Grimma, Zittau, Eilenburg. Wir wallfahrteten in die alten Ost-Fußball-Kathedralen Zwickau, Halle, Magdeburg. Wir lernten die Stadionhymne von Sondershausen: Wir sind alle über vierzig, tausend Sünden im Gesicht.

Es ist schwer, aus der vierten in die dritte Liga zurückzukehren. Im ersten Jahr fing uns Dresden ab. Im zweiten Jahr war’s Sachsen Leipzig, mit einem Schlussspurt von 13 Siegen, fast alle 1:0 durch Kujat-Elfmeter in der 84. Minute (danach hat Ronny Kujat nie mehr was getroffen). Im entscheidenden Spiel des dritten Jahres, gegen Plauen, haute Jenas Torwart kurz vor Ultimo neben eine Rückgabe. Selbstmord wurde erwogen und verworfen, zum Glück, denn 2004/05, im vierten Oberliga-Jahr, hat Jena die Südstaffel überrannt, mit 108 Treffern.

Von 36 Ost-Oberliga-Teams lässt der DFB eines in die Regionalliga aufsteigen. Nach 34 Spieltagen werden Nord- und Südstaffel-Sieger mit Relegationsspielen schikaniert. Wir siegten beim MSV Neuruppin 2:0 und daheim 2:1. Ende gut, alles gut? Der FCC-Fan mag einstweilen so empfinden, zumal Fußball-Jena endlich eigenen Nachwuchs auf den Rasen schickt. Und wir sind schuldenfrei. Aber was wird aus dem Osten? NOFV-Präsident Moldenhauer träumt von einer Pyramide: Zwei Ost-Vereine möchte er in der ersten Bundesliga sehen, vier in der zweiten, acht in der Regionalliga. Derzeit lautet das Verhältnis null-vier-drei. Thomas Doll fordert finanzielles Engagement des DFB und Solidarbeiträge der Wirtschaft. Selbst ein garantierter Bundesliga-Platz für Ost-Vereine wurde erwogen. Letzteres ist sportfremd. Ost-Fußball gehört nicht unter Artenschutz.

Fußball spiegelt Gesellschaft. Die Konstellation lautet nicht Ost gegen West, sondern strukturschwaches contra strukturstarkes Deutschland. Das größte Problem des ausgebluteten Ostens heißt Abwanderung der Qualifizierten, auch im Fußball. Viele Ost-Vereine leisten exzellente Nachwuchsarbeit. West-Klubs, die von dieser Arbeit profitieren, sollten eine Entschädigung zahlen. Das EU-doktrinär mit dem Verweis auf freie Wahl des Arbeitsplatzes abzuweisen, wäre Markt-Stalinismus. Jena hat einen Kooperationsvertrag mit Werder Bremen.

Und wenn der Osten ohne Bundesliga bliebe? Wäre das schlimm? Längst teilt sich der Fußball in zwei Disziplinen: dort der Börsenball der Hochfinanz, hier die Kunst der Heimat. Zu Hertha gegangen, gegen Bayern. Stau. Grottenkick, 0:0. Die Spieler auf dem Rasen groß wie Kommata, dazu ein Animationsprogramm für Gehirnbefreite. Eckbälle wurden präsentiert, Zwischenstände gesponsert, runde Minuten eingeschmettert mit Kindergeburtstagsmusik. Dahin will ich nicht aufsteigen. Nach Neuruppin reisten dreitausend Jenenser, berstend vor Sehnsucht nach Freude. Als es geschafft war, fluteten wir den Rasen, eine Woge in Blaugelbweiß. Das ist mein Fußball: der mit Grasgeruch. Im Gewühl traf ich den uralten Wolfgang Riedel, der mich vor 40 Jahren mit seinem Elfmeterpfiff zum Jena-Fan gemacht hatte. Wirklich, es war Elfer, beteuerte er. Alles andere ist Volkssage.

Christoph Dieckmann ist Autor der „Zeit“. Soeben erschien von ihm im Chr.- Links-Verlag „Rückwärts immer. Deutsches Erinnern“.

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