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Sport: Einladung zum Verrücktspielen

Herthas heutiger Gegner Wolfsburg wünscht sich den exaltierten Marcelinho, der in Berlin gescheitert ist

Marcelinho war kein Vorwurf zu machen, er hatte keine Chance. Sein Gegenspieler maß 22 Zentimeter mehr, war 27 Kilogramm schwerer, und er setzte seinen Körper geschickt ein. Simon Jentzsch schüttelte Marcelinho einfach ab und erzielte das 2:0 für seine Mannschaft. Jentzsch, eigentlich Torhüter des VfL Wolfsburg, kam mit der ungewohnten Rolle als Stürmer offensichtlich besser zurecht als der Brasilianer, der sich im Trainingsspielchen seines neuen Klubs plötzlich als letzter Mann vor dem eigenen Tor wiederfand. Der heroische Einsatz brachte ihm immerhin ein großes Lob von Trainer Klaus Augenthaler ein: „Er ist sehr lauffreudig und sich nicht zu schade, Wege nach hinten zu gehen.“

Erfüllt eine solche Aussage eigentlich schon den Tatbestand der Rufschädigung? Dass Marcelinho freudig nach hinten arbeitet, hat ihm noch niemand nachgesagt. Aus all den warmen Worten des Wolfsburger Trainers über Marcelinho sprach das Bemühen, den Brasilianer nicht wichtiger zu machen, als er es für den VfL schon jetzt ist – vor dem ersten Pflichtspiel für seinen neuen Verein. Eine Fußballmannschaft ist ein kompliziertes soziales Konstrukt, in dem jedes Privileg argwöhnisch registriert wird. „Marcelinho wird bei uns, wie jeder andere, keinen Sonderstatus bekommen“, sagt Augenthaler. Wer’s glaubt.

Wenn der VfL Wolfsburg heute im Berliner Olympiastadion auf Hertha BSC trifft, wird die Hysterie um Marcelinho ihren vorläufigen Höhepunkt erreichen. Fünf Jahre lang, bis zum vergangenen Sommer, hat der Brasilianer in Berlin gespielt, und ausgerechnet bei seinem ersten Einsatz für den VfL muss er gegen den Verein antreten, dessen Spiel er in der jüngeren Vergangenheit entscheidend geprägt hat. „Ich habe schon ein komisches Gefühl im Magen“, sagt Marcelinho.

In 155 Spielen für Hertha hat der mittlerweile 31-Jährige 65 Tore geschossen. Zu seinen besten Zeiten schlug eine Boulevardzeitung vor, den Verein in „Herthalinho“ umzubenennen. Der Brasilianer war die dominante Figur auf dem Platz. Wenn es mal eng wurde, verließen seine Mitspieler sich auf ihn und seine Kunst. Darauf, dass er doch noch einen genialen Spielzug einleitet, sich selbst bis vors Tor dribbelt und trifft oder einen Freistoß ins Netz zirkelt. Der einstige Torjäger und Kapitän, Michael Preetz, hat einmal über Marcelinho gesagt: „Es läuft viel über Marcelinho, genau genommen läuft fast alles über ihn. Das ist nicht so gut, denn es bedeutet im Umkehrschluss: Wenn er nicht spielt, läuft gar nichts mehr.“ Nicht umsonst hat Bayerns Trainer Felix Magath einmal sinngemäß gesagt, die wirksamste Taktik gegen die Berliner sei, Marcelinho auszuschalten. Der Brasilianer genoss eine Sonderstellung, man könnte auch Narrenfreiheit sagen. Solange seine Mitspieler spürten, dass ihnen Marcelinho nützt, ertrugen und duldeten sie seine Exaltiertheit, seine Eskapaden außerhalb des Spielfeldes und seinen Sonderstatus. Am Ende mochte Marcelinhos größter Befürworter, Manager Dieter Hoeneß, das Gleichgewicht zwischen der Mannschaft und ihrem Star nicht mehr ausbalancieren.

Hertha hat sich von Marcelinho emanzipiert und den Beweis angetreten, dass es auch ohne ihn geht. Die Mannschaft hat ein neues Gleichgewicht gefunden. Spieler, die wegen Marcelinhos ballfordernder Art links liegen blieben, sind gefordert, mehr zu riskieren, mehr zu zeigen. Für sie war der Zauberfuß und der Aktionsradius Marcelinhos ein Hemmschuh. Jetzt wird der besser stehende Mitspieler gesucht. Mittelfeldspieler wie Gilberto, Dejagah oder Boateng entwickeln, ja entfalten sich. Herthas Offensivspiel ist schneller und variabler geworden. Ob es erfolgreicher ist? Gesünder ist diese Entwicklung allemal.

Obwohl Hertha vor der Saison den wichtigsten Spieler der vergangenen Jahre verloren hat, ihren besten Torschützen und besten Vorbereiter, steht die Mannschaft sogar besser da als in der vorigen Saison. Marcelinho machte bei Hertha viel, er machte auch viel Gutes – und am liebsten hätte er alles gemacht. Paradoxerweise haben die Wolfsburger den Mittelfeldspieler gerade deshalb verpflichtet. Sie wollten genau den Marcelinho haben, von dem sich die Berliner gerade erst emanzipiert haben.

Eine Entwicklung, wie Hertha sie gerade mitmacht, ist im Fußball nicht ungewöhnlich. Wenn eine Mannschaft ihre Überfigur verliert, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass anschließend alles zusammenbricht. Manchmal geht sie sogar gestärkt aus der neuen Situation hervor, weil der Verlust des kreativen Kopfes häufig durch einen neuen Zuschnitt der Kompetenzen aufgefangen wird: Spieler, die vorher im Schatten standen, übernehmen Verantwortung und blühen plötzlich auf. Trotzdem spricht diese Erfahrung nicht zwangsläufig gegen die Wolfsburger und die Verpflichtung Marcelinhos.

Der Rummel um den Brasilianer hat ein bisschen den Blick dafür verstellt, dass es dem VfL mit dem Transfer nicht in erster Linie um überregionale Aufmerksamkeit geht; hinter der Personalie steckt eine durchaus verständliche sportliche Idee. In den 17 Spielen der Hinrunde haben die Wolfsburger gerade zwölf Tore erzielt, nur der Tabellenletzte Mainz schoss weniger. Auch bei der Zahl der Torchancen liegt der VfL auf einem Abstiegsplatz. Trainer Augenthaler, bei Bayer Leverkusen noch für seine offensive Idee vom Fußball gefeiert, ist durch die unerquickliche Hinrunde des VfL ungewollt in den Ruf geraten, ein Apologet der Defensive geworden zu sein.

Marcelinho soll das kreative und offensive Defizit beheben, das sich im Spiel der Wolfsburger vor der Winterpause offenbart hat. Mit Mike Hanke und Diego Klimowicz verfügt der VfL über zwei typische Strafraumstürmer, die ohne entsprechende Unterstützung aus dem Mittelfeld ihre Stärken nur bedingt zur Geltung bringen können. Ein klarer Fall für Marcelinho also. Allerdings, so hat es Augenthaler bereits verkündet, könne es nicht sein, dass nun die gesamte Verantwortung auf dessen Schultern abgelegt werde.

Beim letzten Test vor dem Rückrundenstart, beim 1:0 gegen Red Bull Salzburg, erzielte Marcelinho sein erstes Tor für die Wolfsburger. Der Brasilianer spielte – wie auch zuletzt bei Hertha BSC – zunächst als hängende Spitze zwischen Mittelfeld und dem einzigen Stürmer Klimowicz. Neben dieser Variante mit einer doppelten Absicherung im defensiven Mittelfeld kann Augenthaler den Brasilianer auch als Spielmacher in einer Mittelfeldraute hinter zwei Spitzen einsetzen. „Mit Marcelinho wird unser Spiel variabler“, sagt Augenthaler. Wolfsburgs Trainer hat sich besonders intensiv für den Transfer verwandt. Er habe nämlich immer wieder schlechte Erfahrungen mit Marcelinho gemacht – damals, als der Brasilianer noch gegen seine Mannschaften spielte.

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