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Sport: Eins rauf mit Mappe

128 Trainer haben für ihren Verband die WM- Spiele analysiert – Heinz Werner hat das Ganze koordiniert

Berlin - Heinz Werner, der einstige Trainer, lässt die Augen blitzen und schwärmt in lyrischen Tönen, wenn er von den letzten vier Wochen spricht: „Dieses großartige Fest ist ja mit einem Sommermärchen zu vergleichen und hat so viele positive Eindrücke vermittelt, dass man sagen möchte: Nehmt euch ein Beispiel an diesem Fußball! Schafft diese Möglichkeiten! Geht ran! Habt keine Angst! Und versucht den bestmöglichen Erfolg! Ich wüsste keine Sportart, die eine ähnliche Wirkung erzielen könnte fürs ganze Land.“

Der Routinier im Fußballgeschäft vibriert mit seinen 70 Jahren wie ein junger Coach am Spielfeldrand, wenn er über seinen Sport spricht. Trainer zu sein sei ein Traumberuf, von dem Heinz Werner nicht lassen möchte. Von 1973 bis 1975 trainierte er Hansa Rostock, durchlitt acht Jahre mit Berlins 1. FC Union (wo er heute im Aufsichtsrat sitzt) Höhen und Tiefen, stand dann in Brandenburg und Karl- Marx-Stadt an der Linie, sollte 1988 eine DDR-Olympiamannschaft aufbauen und wurde stattdessen als Trainer der Nationalmannschaft eingesetzt. Nach der Wende blickte er als Sportdirektor beim MSV Duisburg ins Profigeschäft, saß plötzlich im chinesischen Guangzhou auf der Bank und beendete seine Trainerlaufbahn beim FSV Zwickau in der Zweiten Liga. Heute leitet Heinz Werner Lehrgänge im Auftrag des Weltverbandes Fifa, zuletzt in Kiew, Zagreb und Windhuk. Zur WM kam ein ganz neuer Job dazu.

Während die Stadien kochten, blieben zwei Herren in jedem Rund total cool. Auf ihren Knien lag eine Mappe, über das erste Blatt rollte ein Fußball mit dem Schriftzug „Bund Deutscher Fußball-Lehrer“, der Berufsverband der Trainer. Der Verband ließ sämtliche Spiele dieser WM analysieren, um seine Fachkompetenz zu erhöhen. Wenn ein Tor fiel, nahm der Analyst seinen Stift und beschrieb, wie das alles zustande gekommen war. Er machte Striche und Pfeile, umriss Vorwärtsstrategien, Rückmärsche und ganze Spielsysteme. Manchmal sieht das aus wie eine preußische Schlachtordnung.

Pro Spiel saßen zwei Trainer im Stadion, jeder war für die Analyse einer Elf verantwortlich. Das heißt: 128 Trainer schreiben, zeichnen und begründen ihre Urteile auf 20 Seiten Spielanalyse. Am Ende sind das 2560 DIN-A-4-Seiten voll geballter Fachkompetenz. Die sammeln sich jetzt bis Mitte des Monats auf Heinz Werners Schreibtisch in Berlin-Lichtenberg, 2000 Blätter sind schon da. Antworten auf Fragen wie: Welche Spielsysteme wurden angewendet? Wie war das Spielniveau dieser WM? Welche Taktik bevorzugten die Mannschaften? Das Ergebnis dieser „Eindrucksanalyse“ wird beim Internationalen Trainerkongress Ende Juli in Hannover eine Rolle spielen, dort steht die WM-Auswertung an erster Stelle.

Inmitten der Papierflut nennt Werner erste Erkenntnisse: Europa ist nach wie vor das Maß aller Dinge. Stürmer hatten es schwer wie nie, denn die Trainer haben Abwehrmauern aufgebaut und oft nur eine Angriffsspitze aufgeboten. Die Kreativität des Fußballs war in taktische Fesseln gebunden. Deshalb diese Torarmut, weil Zwänge den Spielfluss ersticken. Stars waren die Abwehrspieler. Und die Allrounder, die schnell waren und überall. Neue Systeme sind kaum zu erkennen. Immer größere Bedeutung bekommen die Standards. Und das schnelle Kombinieren im Mittelfeld, dieses „One touch“- Spiel, ist sicherlich wegweisend.

Eine Übermannschaft gab es nicht; Brasilien, England und die Niederlande enttäuschten, die routinierteste, perfekt organisierte und effektivste Mannschaft hat am Ende gewonnen. Mit einem der cleversten Trainer, der unerwartet (gegen Deutschland) vier Stürmer aufs Feld schickte und genau das tat, was niemand erwartet hatte. Erfolgreiches Risiko. Überhaupt – diese Philosophen des Fußballs, wie Werner seine Kollegen nennt. Sie haben noch immer auf jedes System eine Antwort gefunden. Höchstes Lob gilt Jürgen Klinsmann, der es geschafft hat, dass die Mannschaft mit großem Enthusiasmus, mit Freude, Begeisterung und Hingabe Fußball spielt, lauf- und einsatzbereit, wie es das Publikum sehen will.

Was lehrt uns die WM für den Alltag? Heinz Werner sagt, Freude, Enthusiasmus, Besessenheit müssen mitspielen. Technische Vielseitigkeit ist gefragt, wir brauchen Angriffs- und Abwehrspieler in einer Person. Sie sollen viel können – und es dann auch zeigen. Angriffsfußball mit größerer Risikobereitschaft. Erlebnisfußball, zu dem eine Niederlage genauso gehört wie der Sieg.

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