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Als Paul Breitner (M.) von Real Madrid zur Eintracht nach Braunschweig wechselte. Das Ablösespiel gewann Real, mit dem damals juvenil wirkenden Uli Stielike (r.).

© dpa

Eintracht Braunschweig: In ewiger Eintracht

Der Kopf in Berlin, das Herz in Braunschweig. Unser Kultur-Redakteur Gerrit Bartels erzählt von seiner Fernbeziehung zu einem Fußballklub, die allein von Kindheitserinnerungen lebt.

Ich erinnere mich noch sehr genau, wie Paul Breitner 1977 nach Salzgitter-Thiede kam, ins Jugendfreizeitzentrum am Panscheberg zur Autogrammstunde. Ich eilte mit dem Fahrrad dorthin, kam fast zu spät, es war schon rappelvoll in dem Kellerraum. Danach aber war ich irgendwie enttäuscht, ernüchtert. Der große Starfußballer von Eintracht Braunschweig erschien mir kühl, unnahbar und lustlos, und länger als eine halbe Stunde dauerte die Veranstaltung nicht. Die Autogrammstunde war ein Menetekel, so wie Breitners lustlose, erfolglose Spielerei ein Menetekel war für die Eintracht: Danach ging es bergab.

Es ist seltsam, aber nicht zu ändern: Wenn am Freitagabend Eintracht Braunschweig in Ingolstadt spielt und nach der überraschend erfolgreichen Zweitliga-Hinrunde endlich wieder in die Bundesliga aufsteigen kann, bin ich nicht dabei. Ich werde dieses Spiel durch den Tag tragen und mich dann ab 18 Uhr per Videotext oder Internet über die Ereignisse in Ingolstadt informieren.

Es soll hier um Eintracht Braunschweig gehen, um den Zweiten der Zweiten Liga, einen sogenannten Traditionsverein. Vor allem aber um die Bindung zu einem Fußballklub, meine Bindung, die anscheinend nicht zu kappen ist. Ich wohne zwar schon seit über zwanzig Jahren in Berlin, aber Hertha BSC, Union Berlin und die anderen Berliner Fußballvereine sind mir egal, sie sind mir nicht näher als Mainz 05 oder der Hamburger SV. So wie mir auch Eintracht Braunschweig einmal ziemlich egal geworden war, erst recht in den langen Regional- und Dritte-Liga-Zeiten in den Neunzigern und Nullern.

Auf einmal aber, mit der Saison 2009/2010 in der Dritten Liga, als der Aufstieg knapp verpasst wurde, entfachte sich mein Enthusiasmus für die Eintracht neu. Ich freute mich dann ein Jahr darauf, als der Aufstieg glückte, wenn ein Montagsspiel der Braunschweiger im Fernsehen zu sehen war – und ärgerte mich vor dem Bildschirm, wenn die Mannschaft wie zuletzt in Duisburg oder eben gerade in Berlin gegen Hertha blutarm spielte und verlor.

Woher kommt nun aber wieder all die Leidenschaft? Ist es nur, weil der Verein momentan ein wenig Erfolg hat und ich deshalb Anteil nehme? Bin ich so ein Champagner-Fan, der nur erfolgreiche Mannschaften schätzt? Kein echter Eintracht-Fan? Der auch Spiele der Nationalmannschaft nur bei großen Turnieren schaut? Nein! Mein Selbstbewusstsein wird nicht durch Siege oder Niederlagen beeinflusst. Die vielen Fußballspiele, die ich im Fernsehen sehe, haben für mich viel mit Kontemplation zu tun, einem schönen Versenken. Man könnte es, negativ konnotiert, auch Eskapismus nennen.

Die wiederaufgeflammte Begeisterung für Eintracht Brauschweig hat vor allem mit einer heimatlichen Verbundenheit zu tun, und sei diese noch so diffus. Mit meiner Kindheit und Jugend und mit der Erinnerung daran, an das berühmte verlorene Paradies, mit der Sehnsucht nach der vermeintlichen Unbeschwertheit der Kindheit. Dagegen kommen zwanzig Jahre Berlin und ein Verein wie Hertha nicht an. Bindungen wie diese sind nicht einmal mit Zauberfußball herzustellen (von dem Hertha ja in der Regel genauso weit entfernt ist wie Eintracht Braunschweig.)

Ich komme aus Salzgitter, und tatsächlich hat mich mein Vater 1975 erstmals mit ins Eintracht-Stadion genommen, damals noch in das „An der Hamburger Straße“, zum letzten Saisonspiel gegen die Namensvetterin aus Frankfurt. Wir saßen auf einer Nebentribüne und es ging bei dem Spiel um nichts mehr, zumindest für meine Eintracht, Braunschweig gewann 2:0. Zwei Spielzeiten darauf wechselte dann Paul Breitner von Real Madrid ins beschauliche Niedersachsen. Doch mit dem Weltstar hatte der Jägermeister-Sponsor Günter Mast sein Engagement überzogen: Breitner und die Fußballprovinz, das passte nicht. Auch der sogenannte Millionensturm mit Ronald Worm und Hans-Werner „Rakete“ Eggeling blieb danach ohne Erfolgswirkung.

Blassgelb bis blassblau - weder die Eintrittskarten noch die Erinnerungen strahlen

Es sind vielleicht solche Erinnerungen wie die mit Breitner, die einen zu einem ewigen Fan werden lassen. Die langgezogenen „Danilo-Popivoda“-Rufe oder die kurzen „Bernie, Bernie, Bernie“-Gesänge (für Bernd Franke). Reiner Hollmann, der eines Tages unser Nachbar in Salzgitter wurde, ein oder zwei Jahre lang wohnte er unserem Haus gegenüber. Die Eintrittskarten, die ich damals gesammelt habe, aus kartoniertem Papier, für jedes Heimspiel eine andere Farbe: blassgelb, blassrosa, blassgrün, blassblau. Ja, sie hatten alle etwas Blassgraustichiges und wurden unten und oben rechts immer eingerissen.

Der Erfolg von heute löst ganz unwillkürlich solche Erinnerungen aus, zum Beispiel an die Süßigkeitenverkäufer in ihren weißen Kitteln, die die Laufbahn unten entlanggingen und bei denen mein Vater immer so merkwürdig flachkantige, gleichfalls viel- und blassfarbige Hustenbonbons kaufte, manchmal waren es auch irgendwelche Nüsse. Der Geschmack der Hustenbonbons ist mir noch immer gegenwärtig, gegenwärtiger als viele der Spiele, die ich im Stadion gesehen habe.

Mit Beginn meines Studiums in den späten Achtzigern aber riss gewissermaßen der Kontakt ab. Ich erinnere mich noch vage an ein Aufstiegsspiel, das ich mir im Berliner Olympiastadion angeschaut habe (Braunschweig gewann gegen Hertha 4:2); später sollte ein Pokalendspiel zwischen Karlsruhe und Kaiserslautern mein zweites und gleichzeitig letztes Live-Fußballspiel gewesen sein, das ich in Berlin bis auf Weiteres gesehen habe. Was für ein Getöse vor dem Spiel, in der Halbzeit und danach, man konnte sich kaum unterhalten, so laut war die Musik (Wolfgang Petry!).

Was war das doch immer für ein Frieden im Eintracht-Stadion an der Hamburger Straße! Dort hatte es zwar auch immer Halbzeitpausenunterhaltung gegeben, zum Beispiel mit Elfmeterschießen zwischen Betriebsmannschaften von VW und der NordLB oder mit der Vorführung neuer VW-Modelle. Aber es war bei weitem nicht so laut und aufdringlich wie in den heutigen Stadien.

Mit meinem Vater rede ich heutzutage immer auch über die Eintracht, manchmal auch über den VfL Wolfsburg, er ist da entspannt. Aber nie über Hannover 96, bei aller Rivalität.

Die großen Spiele, die wir rezitieren. Unser erstes gemeinsames damals gegen Frankfurt. Oder das 2:0 gegen Kickers Offenbach, 1981, Aufstiegsspiel in die Bundesliga, nach einem 0:1 im Hinspiel. Wie ich mich damals freute auf die nächste Saison, endlich wieder gegen den FC Bayern und Borussia Mönchengladbach, den HSV und all die anderen. Wie selig ich da war!

Am Freitag, da der Aufstieg erneut vor der Tür steht, mache ich mir auch ein wenig Sorgen: Reicht es für die Bundesliga? Oder ereilt uns womöglich das Schicksal der Fürther? Ist nicht die Zweite Liga vielleicht die gemäßere?

Was soll’s. Zumindest habe ich in der kommenden Spielzeit 17 triftige Gründe, wieder einmal in meiner alten Heimat vorbeizuschauen.

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