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Eiskunstlauf EM - Jewgeni Pluschenko

© dpa

Eiskunstlauf: Bühne frei fürs Schummeln

Nach einem Preisrichter-Skandal bei den Olympischen Spielen 2002 wurde das Wertungssystem im Eiskunstlauf angeblich gerechter gemacht – doch verbessert hat sich bis heute nichts

Joe Inman informierte flächendeckend: Gleich 60 Protest-E-Mails schrieb er vor den Olympischen Spielen an die Eiskunstlauf-Preisrichter aus aller Welt. Der US-Amerikaner wertete viele Jahre lang bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen. Er ist eine wichtige Stimme in der Szene; und er sorgt sich um die nordamerikanischen Athleten. Die würden bei den Noten schlechter wegkommen als die Europäer. Europäer sind in der Regel sprungstark. Eigentlich fordert das neue Wertungssystem eine stärkere Berücksichtigung des künstlerischen Eindrucks – eine Stärke der Nordamerikaner. Auf die Noten aber schlage sich das bislang nicht zwangsläufig nieder.

Egal, welches Detail Joe Inman herausgreift, egal auch, ob er Recht hat, es geht ums System. Und das System ist unverändert mangelhaft. Das neue Wertungssystem wurde nach dem Preisrichter-Skandal bei den Olympischen Spielen 2002 eingeführt, damit es gerechter zugehe im Eiskunstlauf. „Aber die Möglichkeiten zur Manipulation sind weiter vorhanden“, sagt Reinhard Ketterer, der Leitende Landestrainer von Berlin.

Von zwölf Preisrichtern kommen sieben in die Wertung

In der Theorie ist alles einfach: Von zwölf Preisrichtern kommen jeweils nur sieben in die Wertung, damit soll die Macht des Einzelnen beschränkt werden. Jedes Element eines Programms wird auf einer Skala von minus drei bis plus drei bewertet. Und jedes Element hat einen bestimmten Schwierigkeitsgrad, einen so genannten Level. Den legen drei zusätzliche technische Preisrichter fest und leiten ihn an die übrigen Preisrichter weiter. Das letzte Wort bei den Levels hat allerdings ein Oberschiedsrichter. Je stärker der als Persönlichkeit ist, umso mehr beeinflusst er seine beiden Kollegen. Da bekommt schon mal ein bestimmter Athlet plötzlich einen höheren Level als er verdient hat. Dazu kommt natürlich noch der künstlerische Eindruck. Den bestimmen alle Preisrichter. Dort kann am meisten manipuliert werden.

In der Wahrnehmung der Athleten hat sich jedenfalls nichts geändert. Im Januar in Tallinn wurde der Russe Jewgeni Pluschenko Europameister. „Aber die Noten für ihn“, sagt Daniel Weiss, früher selber Eiskunstläufer und jetzt ARD-Kommentator, „fielen etwas zu hoch aus.“ Pluschenko ist Olympiasieger, ein Star, er genießt einen Bonus. So hat es auch Stefan Lindemann empfunden. Der Erfurter, der in Berlin trainiert, belegte bei der EM Platz neun. Im Kurzprogramm hatte Pluschenko sechs Punkte mehr erhalten als er. Das , meint der 29-Jährige, der in Vancouver seine Karriere beenden wird, „entspricht nicht den gezeigten Leistungen.“

Am stärksten erregte sich Trainer Ingo Steuer in Tallinn über die Preisrichter. Sein Paar, Aljona Sawtschenko und Robin Szolkowy, belegte überraschend nur Platz zwei hinter den Russen Yuko Kawaguchi/Alexander Smirnow. Das Paar erreichte eine sensationelle Punktzahl, 213,15 Punkte. Eine Leistung, über die viele Experten nur den Kopf schüttelten. „Die haben in einem Monat das Laufen gelernt“, schimpfte Steuer. „Preisrichter sind wie Regen und Tod, die kann man nicht beeindlussen.“ Das Preisgericht war in Tallinn stark Osteuropa-lastig besetzt.

Stars besitzen einen Bonus

Insgesamt nahm Steuer das Ergebnis gleichwohl noch vergleichsweise gefasst hin, die EM war für ihn nur ein Test für Vancouver. Dort besitzen die Weltmeister mit Sicherheit jenen Bonus, den auch Pluschenko hat. Dieser Bonus in Verbindung mit ihrer Klasse erhebt die Chemnitzer in den Rang der großen Favoriten.

Aber das Grundproblem bleibt, die Möglichkeit zur Manipulation. Aber einer wie Lindemann nimmt das einfach hin. „Ich könnte in Vancouver so gut laufen wie die Topstars, ich hätte doch keine Chance auf einen vorderen Platz“, sagt er. Auch das deutsche Eistanz-Paar William und Christina Beier hakt dieses Bonus-System als unverrückbar ab. „Es ist halt so, man kann nichts dagegen machen“, sagt Christina Beier. Beim Bankett in Tallinn soll ein hoher Funktionär des Weltverbands ISU zu Preisrichtern gesagt haben: „Legt Euch nicht zu früh auf einen Olympiasieger fest.“ Verstanden wurde es als Hinweis auf Pluschenko.

Im Bemühen, zumindest so etwas wie Gerichtigkeit vorzutäuschen, werden die Regeln zudem immer komplizierter, so dass ein normaler Zuschauer inzwischen überhaupt nicht mehr durchblickt. Das ärgert den Berliner Chef-Coach maßlos. „Es ist so ähnlich wie bei der Steuergesetzgebung“, stöhnt Reinhard Ketterer. „Jedes Jahr kommen neue und noch kompliziertere Regeln. Wenn das so weiter geht, dann erreicht Eiskunstlauf bald den Beliebtheitsgrad einer Steuererklärung.“

Joe Inman im Übrigen kann in Vancouver nicht für selbst empfundene Gerechtkeit sorgen. Er ist als Preisrichter nicht vorgesehen.

Gregor Derichs[Whistler]

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