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Den Ton perfekt getroffen. Die Olympiakür von Jayne Torvill und Christopher Dean zum Bolero (oben) erhielt 1984 in Sarajevo neunmal die künstlerische Höchstnote. Ein einmaliges Ereignis. Ihre Musikauswahl haben jetzt dennoch die deutschen Paarläufer Aljona Sawtschenko und Robin Szolkowy aufgegriffen.

© dpa

Eiskunstlaufen: Nicht anfassen, Kunstwerk

Weil sie zu Ravels Bolero laufen, wecken die Eiskunstläufer Aljona Sawtschenko und Robin Szolkowy Erinnerungen an ein Monument der Sportgeschichte: die Olympiakür der britischen Eistänzer Torvill/Dean.

Wenn Ingo Steuer auf den Bolero der Sportgeschichte angesprochen wird, hebt er abwehrend die Hände. „Bitte nicht mit Torvill/Dean vergleichen“, sagt er, „deren Bolero ist unantastbar.“ Was der innovative Paarlauftrainer Steuer mit seinem deutschen Weltmeisterpaar Aljona Sawtschenko und Robin Szolkowy in diesem Winter gesucht und gefunden hat, war zwar ein etwas anderer Bolero. Nicht in der Originalversion des französischen Komponisten Maurice Ravel aus dem Jahr 1928, sondern in einer Flamenco-Version. „Wir wollen damit eine eigene Geschichte erzählen“, sagt der Paarlaufweltmeister von 1997. Aber können sich Sportler, Preisrichter, Zuschauer wirklich lösen von der Erinnerung an diesen ästhetisch herausragenden Moment der Sportgeschichte, die goldene Kür des britischen Eistanzpaars Jayne Torvill und Christopher Dean bei den Olympischen Winterspielen 1984 in Sarajevo?

Der klassische Bolero der britischen Eistänzer wurde zum Sportkunstwerk – der flottere Flamenco-Bolero der deutschen Paarläufer soll eigene Maßstäbe setzen. Diese Gratwanderung auf Kufen, die nach Torvill/Dean noch kein Spitzenpaar des Eiskunstlaufs aus Respekt vor einem Monument gewagt hat, ist Sawtschenko/Szolkowy im Januar bei der Europameisterschaft in Zagreb nur in Maßen gelungen. Weniger, weil Aljona Sawtschenko beim Dreifachsalchow stürzte und die Chemnitzer Kombination am Ende nur auf Platz zwei hinter den Russen Wolossoschar/Trankow landete. Eher, weil ihr Bolero dann doch immer wieder Assoziationen an 1984 weckte: an das unübertreffliche Meisterstück von Torvill/Dean, das die vollkommen hingerissenen neun Preisrichter mit dem damals noch gültigen Nonplusultra bewerteten: dreimal die Höchstnote 6,0 für die sportliche Darbietung, alle Neune mit der 6,0 für den künstlerischen Wert. Das gab es nur einmal und es kam nie wieder.

In diesem Winter aber haben sich nicht nur Sawtschenko/Szolkowy, die am nächsten Mittwoch bei der WM im kanadischen London in der Provinz Ontario Teil eins ihrer Mission Titelverteidigung mit dem Kurzprogramm in Angriff nehmen, sondern auch die italienische Weltmeisterin Carolina Kostner an das Ballettstück herangetraut. Die 26 Jahre alte Italienerin habe sich schon in der vergangenen Saison beim Training von dem spanischen Tanz im Dreivierteltakt inspirieren lassen, erzählt ihr deutscher Trainer Michael Huth. Und er habe ihr wie auch die kanadische Kostner-Choreografin Lori Nicol dazu geraten, ihre eigene Phantasie in einer Bolero-Kür auszuleben. „Das wäre eine Herausforderung“, hat Huth der fünfmaligen Europameisterin damals gesagt, „du besitzt dazu die Klasse.“ Die mit knapp 1,70 Metern längste aller großen Eiskunstläuferinnen ist dazu die sensibelste und manchmal auch scheueste Wettkämpferin ihrer Szene. „Der Bolero war schon immer ein Traum von mir“, sagt Carolina Kostner, „ich habe aber nicht daran gedacht, dass ich diese Musik je nutzen würde. Jetzt bin ich froh, dass ich den Mut dazu aufgebracht habe, auch weil mir meine Choreografin auf dem Weg zu unserer Entscheidung gesagt hat, lehn’ dich doch einfach mal ein Stück über den Balkonrand hinaus.“ Wer ihre Kür bei der EM in Zagreb sah, die sich in ihrer gestischen Ausgestaltung an der Bolero-Ballettinszenierung des französischen Tanzmeisters Maurice Béjart aus dem Jahr 1961 orientiert, war fasziniert von der Hingabe der Läuferin an eine Komposition von hoher Intensität. „Zu sehen, dass man die Leute begeistern kann, ist viel mehr wert als irgendeine Medaille“, sagt Kostner.

Das sportlich hochwertige und künstlerisch ansehnliche Bolero-Solo der Carolina Kostner ist ein Kraftakt – auch für die Zweiergemeinschaft Sawtschenko/Szolkowy. „Der Energielevel und die Atmosphäre der Musik steigern sich ständig“, sagt Carolina Kostner, die ihren Titel am Samstag verteidigen und behalten will, „diesen Spannungsbogen auf dem Eis zu zeigen und durchzuhalten, ist nicht einfach.“ Aljona Sawtschenko hat eine ähnliche Erfahrung gemacht: „Ich hätte mir diese Kür leichter vorgestellt. Man braucht Zeit, sich reinzutasten.“ Und weil die gebürtige Ukrainerin nicht so erpicht darauf scheint, sich einerseits am Original von Torvill/Dean messen zu lassen und sich andererseits davon abzugrenzen, freut sie sich schon auf das kommende Olympiajahr, „wenn wir wieder andere Programme laufen“.

2013 schwingt der Vergleich mit dem Bolero-Meisterwerk der zwei Engländer aus Nottingham gewollt oder ungewollt immer mit. Diesen virtuellen Wettkampf können weder Sawtschenko/Szolkowy noch Carolina Kostner (schon weil ihr der Partner fehlt) gewinnen. Zum Trost winkt ihnen wenigstens der Weltmeistertitel.

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