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Sport: EM-Aus für Deutschland: Wie die deutsche Fußball-Nationalmannschaft doch noch einen historischen Sieg errang

Seitenaus. Deutschland gegen Rumänien.

Seitenaus. Deutschland gegen Rumänien. Vor der Trainerbank, gefangen im UEFA Strafraum zwischen Energiedrinks stehend: Erich Ribbeck, die redenden Hände wie einen Scheibenwischer durch die feuchte Hitze schiebend, als machte in seiner nicht enden wollenden geriatrischen Solidarität mit Lothar Matthäus gerade sein Wahrnehmungsmuskel zu. Wie damals Ceausescu, der König der Karpaten, vor der Revolution auf seinem Balkon, blickt er in die Katastrophe und will nicht glauben, was er dort sieht: dass die harte Realität seinem maroden Wunschgebäude gegen das Schienbein tritt und seine aus porösen Satzbausteinen gefügte Abwehrmauer schon bei ihrem ersten Sturmlauf durchbricht.

Sicher wird Deutschland mit diesem Team in die EM-Geschichte eingehen - als erstes Land, das ein rhetorisches Seminar zu einem Wettbewerb schickte. Auf Versfüßen gewinnt man leider kein Spiel, selbst wenn Pfingsten ist. Der Heilige Geist hat wieder einmal seine anatomische Schwäche bewiesen und hätte den Adilettenaposteln des deutschen Fußballs statt ihrer Zungen wohl besser die Wadenkrämpfe gelöst und den erbärmlich hängenden Spitzen Flügel verliehen. Auf die Frage, was ihm zu dem rumänischen Star Hagi (ausgesprochen Hadschi) einfiele, hat Mehmet Scholl, der ja bei Interviews gerne niest, eloquent mit "Gesundheit" gekontert. Ein Wunder, dass ihm auch auf dem Platz, wo die Wahrheit zwischen Grasbüscheln liegt und heftig durchgrätscht wird, eine passende Antwort einfiel, der Ausgleichstreffer gegen die Rumänen. Ansonsten kommt dieser fromme und alle Selbstheilungskräfte beschwörende Wunsch - Gesundheit! - aus den Zeiten der Pest. So lässt sich aus dieser düsteren Schnupfenepoche eine erleuchtende Bogenlampe ins erkältete Abseits unserer Spielunkultur schlagen.

Es stimmt schon, der DFB-Vorsitzende Pater Braun, die Taktik unseres Trainers, das alles stammt aus dem Mittelalter, aber: Gesundbeten hilft längst nicht mehr, da mag Lothar noch so oft aus dem Jungbrunnen steigen und alle zu seinem Stigamuskel pilgern. Nicht umsonst sprechen die deutschen Spieler davon, dass sie sich wie am Pranger fühlten. Denn, so kicken sie ja auch: völlig unbeweglich. Nur liegt die Marter bei denen, die sich das auch noch anschauen müssen. Da wartete sie, die Masse, auf kollektive Ekstasen, doch sie bekam nur Angsthasen statt Fußball auf dem Rasen zu sehen.

Als Fan der deutschen Mannschaft bleibt einem nichts anderes übrig, als sich schon jetzt einer Weltmeisterschaftsqualifikationsuntergangssekte anzuschliessen, dann kann man sich wenigstens auf einem Katapult oder aus einer Torkanone in den Nachthimmel schießen lassen. Die letzte Hoffnung auf einen gewissen Kick.

Wie kann man auch zu einem Turnier ohne jeden Guru oder Hofnarren fahren? Dieses Team hat sein Profil einfach der Fönfrisur Oliver Bierhoffs angepasst. Außer Oliver "Karate" Kahn, Jens "Eigentor" Jeremies und Carsten "Ringküsser" Jancker, nur Schwiegermuttitypen, die sich am liebsten, wenn sie den Rasen betreten, die Schuhe ausziehen möchten und mit Sir Erich im Mittelkreis eine Tasse Tee trinken, bevor sie sich an den Händen fassen und gemeinsam "Muss i denn, muss i denn, zum Städtele hinaus, und du, und du, mein Pokal, bleibst hier" anstimmen. Fehlt nur noch Heulsuse Möller: Die gäbe einen perfekten Countertenor ab, wenn wir schon keine Konterspieler haben.

Wer fehlt, sind einfach Quertreiber wie Basler, die ihre Gegenspieler nicht nur nach, sondern auch während des Spiels abzocken. Sicher hat Super-Mario nur noch Luft für einen Freistoßanlauf, aber wenn er dann den Ball anhaucht und die Kugel wie an Engelsschnüren geleitet ins Tor sinkt, reicht es doch, um Spiel entscheidend zu sein. Kann denn einer der deutschen Grobmotoriker die Kugel Ball so elegant berühren und zu Elipsen verführen wie Basler?

Man erinnere sich nur, wie der sich den Ball vor dem Freistoß oder Eckball zurechtlegt, ihn in seinen Händen wiegt, in aller beschwörenden Behutsamkeit auf die Kollision mit seinem schmiegsamen Fuß auf den Punkt platziert, aufsteht, sich noch mal bückt, das Ventil überprüft, den Ball ein weiteres Mal auf dem Rasen dreht und dann Anlauf nimmt, um ihn schließlich mit letzter Kraft in die unerwartete Ecke zu knallen. Lieber einen Laktattestlooser wie ihn als all die anderen Lackaffenwinner, die regelmäßig Flankebälle mit Börsenkurven verwechseln. Nur mit einem wie Basler oder Effe kämen sie über den Berg.

Man muss nur an das Spiel gegen England denken. Selbst wenn die Deutschen etwas unglücklich verloren haben, wie leidenschaftslos war das, was für eine Adrenalinapathie! Wie haben wir alle auf diesen Moment hingefiebert, der alles wieder hätte gutmachen können, was für Szenarien haben wir uns nicht ausgedacht, und wie belanglos war es dann am Ende.

Dabei hätte es doch ganz anders kommen können, denn ich hatte einen Traum: Ziege will Beckham beim Eckball an die spicy Unterwäsche, während Oliver Kahn dem heranfliegenden Shearer ein Ohr abbeißt, was den englischen Kriegsveteranenverein hinter seinem Tor zu einer Golfballschleudermaschine mutieren lässt, worauf sämtliche Spieler im Strafraum ausrutschen und sich auf der Suche nach dem Ohrläppchen ineinander verkeilen. Tumulte, Rote Karte für Kahn, Rudi Völler spuckt von der Tribüne auf den Linienrichter, Chaos. Nachdem die beiden anderen Torwarte sich beim Warmlaufen bereits verletzten, entscheidet sich Lothar, ins Tor zu gehen: Schließlich kann man als Torwart noch ein paar Jahre länger spielen. Elfmeter, dessen Ausführung allerdings auf sich warten lässt, weil alle englischen Spieler plötzlich Weinkrämpfe bekommen. Schließlich das Duell Seaman gegen Matthäus. "Ja gut, Lothar kann ja", wie Beckenbauer meint, "rechts wie links fausten und verfügt über genügend Erfahrung im Umfallen". Dann die Sensation: Seaman nimmt den Ball in die Hand und läuft mit ihm bis ins Tor. Da hatte er wohl etwas missverstanden bezüglich der neuen Sechssekundenregel für Torwarte. Das Spiel läuft jetzt auf Hochtouren und alle jagen sie dahin auf der Suche nach dem verlorenen Tor. Nur Seaman ist noch immer völlig neben der Rolle und verwechselt bei einem Freistoß Janckers Kahlkopf mit dem Ball, worauf der deutsche Fussballgott vom Platz getragen wird, worauf Ribbeck in seiner Ratlosigkeit zu seiner Wunderwaffe greift und seinen Assistenten Hrubesch einwechselt. Die Devise ist eindeutig. Das alte Kopfballungeheuer solle einfach nur in der Strafraummitte stehen bleiben, irgendwer würde ihn dann schon anschiessen.

Und so passiert es dann auch, eine geriatrische Komödie: 93. Minute, Abschlag, Matthäus, Hinterkopf Hrubesch, Tor, Sieg Deutschland. Als die Reporter auf den Matchwinner zustürmen und nach einer Erklärung suchen, meint dieser nur: "Ja, gut, ich dachte mir, man muss das Spiel Paroli laufen".

Dann das böse Erwachen! Leider kam alles ja ganz anders. Nein, nicht anders, sondern noch schlimmer. Die deutsche Z-wie-Zero-Elf gegen die positive B-Probe der Portugiesen: Ein Alptraum. Da folgten die Karpatenvampire brav den blutrünstigen Dracula-Gelüsten der "Bild-Zeitung" und bohrten ihre Stollen in die blassen Engländer - und was macht unser Team? Es stellt auf dem Rasen einen kollektiven Antrag auf Fussball-Asyl in Liechtenstein und schämt sich aus dem Turnier, während Hrubesch auf seinem Bänkchen noch immer fleißig Strichmännchen malt und überlegt, wie viele Ausländer man einwechseln darf. Danach nur ein einziger tröstender Gedanke: Jetzt könnte Lothars Hauspostille für die Spielerinterviews endlich wieder auf dicken schwarzen Balken ihre schönste Überschrift aus der Mottenkiste holen: "Bild" sprach mit dem Toten.

Ja, es sieht wirklich ziemlich düster aus, uns droht eine dunkle Zeit des Darbens! Der deutsche Fussball liegt in Scherben, das Feuer ist raus. Klar, dass jetzt Christoph Daum kommen muss: dann läuft alles wie von selbst. Und Ribbeck? Der wird von der Queen für seine Verdienste um den englischen Fussball (denn die sind ja zumindest mit einem Sieg gegen Deutschland nachhause gefahren) zum Ritter geschlagen und fortan auf der Tribüne sitzen und das tun, was er am besten kann: winken.

Der Schriftsteller Albert Ostermaier veröffentlichte zuletzt den Gedichtband "Heart Core". Am Deutschen Schauspielhaus Hamburg wurde im Mai sein Stück "Death Valley Junction" uraufgeführt. Mit "Letzter Aufruf" gewann Ostermaier den Heidelberger Stückepreis.

Albert Ostermaier

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