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Sport: EM-Finale: 55 Sekunden zwischen Himmel und Hölle

Was soll noch passieren? Bei einigen tropfen Freudentränen auf den Laptop.

Was soll noch passieren? Bei einigen tropfen Freudentränen auf den Laptop. Mit geröteten Wangen hauen die italienischen Journalisten auf der Pressetribüne in die Tasten, kreieren Lobeshymnen auf die Mannschaft von Trainer Dino Zoff. "Wunder", "unsterblich", "Helden von Rotterdam" - diese Worte fallen immer wieder. Es läuft die Nachspielzeit. Was soll noch passieren? Italien ist am Sonntag um 21.52 Uhr Europameister, durch ein Tor von Marco Delvecchio (55.) gegen den amtierenden Weltmeister Frankreich. Was soll noch passieren? Am Spielfeldrand fallen sich die italienischen Auswechselspieler und Betreuer um den Hals. Dino Zoff, den sie vor kurzem "Mumie" getauft haben, weil er kaum zu einer Gefühlsregung fähig scheint, ballt die Fäuste und gestikuliert wild in Richtung Schiedsrichter. Abpfeifen! Und dann passiert es: Ein Mal passt Italiens sonst so zuverlässiger Verteidiger Fabio Cannavaro nicht auf - der Franzose Sylvain Wiltord entwischt ihm und überwindet Torhüter Francesco Toldo mit einem Schuss ins lange Eck. Drei Minuten sind zu diesem Zeitpunkt bereits nachgespielt. 1:1, noch weitere 55 Sekunden lässt Schiedsrichter Anders Frisk spielen, danach Verlängerung. "Der Triumph ist uns 55 Sekunden vor Schluss entglitten", steht am nächsten Tag in "Tuttosport". 55 Sekunden zwischen Himmel und Hölle.

"Die Italiener feierten schon ihren Sieg, das hat uns wachgerüttelt", sagt Frankreichs Kapitän Didier Deschamps, der später den Cup entgegennimmt und ihn den jubelnden Fans präsentiert. Dieser Treffer 55 Sekunden vor Ende hat Italien besiegt, auch wenn es da erst 1:1 steht. Das Golden Goal durch David Trezeguet in der 103. Minute ist logisch, weil Italien den Glauben an sich verloren hat. Die Körpersprache der Spieler während der fünfminütigen Pause vor der Verlängerung verrät alles. Die Franzosen stehen ausnahmslos, schwatzen, klatschen sich ab. Weltmeister, die sich schon in diesem Moment auf der Sonnenseite angekommen fühlen. Zwanzig Meter daneben: Fast alle Italiener hocken auf dem Feld, teilweise liegen sie, alle viere von sich gestreckt, auf dem Rasen. Jeder ist für sich alleine, kaum einer spricht ein Wort. Mittendrin steht ein ratloser Zoff, seine Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Bis hinauf zum letzten Platz auf der Tribüne signalisiert das alles: Diese Spieler ergeben sich in ihr Schicksal, sie wissen, dass sie ihre Chance gehabt haben. Dass sie zwar gut gespielt und vor allem teilweise offensiver als von vielen erwartet agiert haben. Doch nun warten sie darauf, von Frankreich endgültig besiegt zu werden. Früher oder später.

Aus den Freudentränen werden später Tränen der Trauer und der Wut. Nur widerwillig holen sich die Italiener ihre Silbermedaillen ab. "Ich fühle mich sehr schlecht", erklärt Zoff mit bebender Stimme. "Das ist einer der schwierigsten Momente in meinem Leben." Abwehrchef Alessandro Nesta: "Das ist ein schwarzer Tag in meiner Karriere, Zweiter zu werden, ist nichts." Cannavaro, der auch beim zweiten Tor der Franzosen nicht auf der Höhe war, jammert: "Wir hatten den Cup doch schon in den Händen." Kapitän Paolo Maldini, dessen 111. Länderspiel vielleicht auch sein letztes gewesen ist, vergräbt sein Gesicht immer wieder im Trikot und spricht von der "schlimmsten Niederlage meiner Laufbahn". Da ist es auch kein Trost, dass Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi lobt: "Ich bin stolz, ein Italiener zu sein. An dieser Nationalmannschaft sollte sich das ganze Land ein Beispiel nehmen." Mit Teamgeist und Gemeinschaftssinn hätten die Profis aus Rom, Mailand und Turin Großes erreicht.

Doch so ist das eben: The winner takes it all. Nein, er fühle sich nicht als moralischer Sieger, sagt Zoff: "Die Realität zählt - wir haben verloren." Wer spricht jetzt noch davon, dass man den Italienern vor der EM wenig bis gar nichts zugetraut hatte. Dass sich die Nation von den Kickern abgewendet hatte, dass man Dino Zoff wegen seiner rückwärtsgewandten defensiven Spielweise als "Dinosauro" verspottet hatte. Das war die Zeit, als sich kurz vor der EM im Trainingslager in Coverciano die Spieler zusammensetzten. Filippo Inzaghi erinnert sich: "Wir haben einen Pakt geschlossen. Wir sagten, wir halten zusammen, egal, was auch passieren mag. Dieser Mannschaftsgeist kann uns sehr weit bringen." Cannavaro ergänzt: "Monatelang haben die Leute über uns gelacht und uns kritisiert, dadurch sind wir näher zusammengerückt." Nach der Niederlage war jedoch jeder für sich allein.

Voller Neid starrten die Italiener auf die französische Jubeltraube. Wie verliebte Jungs streichelten die Zidane, Henry, Blanc und Barthez den Pokal. Keine Frage, am Ende wurde die beste Mannschaft Europameister. Doch was wäre gewesen, wenn Alessandro del Piero seine beiden großen Chancen genutzt hätte? Er allein hätte den italienischen Triumph perfekt machen können. Zoff: "Ich mache ihm keinen Vorwurf."

"Wir geben niemals auf und verlieren nicht die Nerven", nennt Bixente Lizarazu das Geheimnis des französischen Erfolges. Bis zum Ende der Nachspielzeit hatten die Franzosen versucht, mit Plan über die Flügel zu kombinieren. Als zehn Minuten vor Schluss Abwehrspieler anfingen, den Ball hoch und weit in Richtung italienischen Strafraum zu dreschen, wurden sie von Zinedine Zidane, dem Lenker des Spiels, zusammengestaucht. Der beste Spieler des Turniers sieht seine Mannschaft als "logischen Europameister, denn über das gesamte Turnier hinweg haben wir den besten Fußball gespielt".

Weltmeister, Europameister - vergleichen ließen sich die beiden Titelgewinne nicht, behauptet Thierry Henry, der schnelle Stürmer. Er erinnert sich, dass nach dem WM-Sieg oft davon gesprochen worden sei, wieviel Glück die Equipe tricolore doch gehabt habe. "Angeblich hatten wir eine leichte Gruppe, hatten schließlich Heimvorteil - und die Brasilianer waren im Endspiel schwach." Aber diesmal "hatten wir die schwerste Gruppe, spielten im Ausland und haben mehrere Male Rückstände aufgeholt".

Trainer Roger Lemerre sieht die Europameisterschaft nur als eine Zwischenstation auf dem Weg zu einer erfolgreichen Titelverteidigung bei der WM 2002 in Japan und Korea. Und um die Zukunft der Nationalmannschaft muss es Frankreich dabei nicht bange sein. Selbst wenn Laurant Blanc dann nicht mehr dabei sein wird. Nach 95 Länderspielen ist für den 34-Jährigen Schluss in der Nationalmannschaft. Ob Didier Deschamps (31) weitermachen wird, ist noch offen. Doch junge Spieler wie Anelka (21), Henry (22), Trezeguet (22) und Viera (24) stehen für einen langsamen Generationswechsel. Was soll da noch passieren?

Sebastian Arlt

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