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© dpa

EM-Historie Tschenscher Münze: "Den Probewurf gewannen noch die Sowjets“

Vor 40 Jahren zog Italien ins Finale ein – per Münzwurf. Schiedsrichter Kurt Tschenscher erinnert sich. Und zeigt seine Münze.

Das Spiel war nicht gerade dramatisch – was danach kam, schon. 0:0 stand es nach 120 Minuten im EM-Halbfinale 1968 in Neapel zwischen Gastgeber Italien und der UdSSR. Der deutsche Fifa-Schiedsrichter Kurt Tschenscher pfiff ab und nahm das Schicksal in seine Hand. Am Abend des 5. Juni 1968, heute vor 40 Jahren, entschied er das Spiel per Münzwurf. Im Tagesspiegel erinnert sich der inzwischen 79-Jährige an dieses einmalige Erlebnis.

Herr Tschenscher, was hatten Sie für ein Gefühl im Bauch, als Sie den Sieger per Glückswurf festlegen sollten.

Zunächst muss man sagen, dass die Russen das Spiel durchaus hätten für sich entscheiden können. Sie waren die spielerisch engagiertere und taktisch bessere Mannschaft und hatten im Gegensatz zu den Italienern, denen eigentlich nichts gelang, etliche Torchancen.

Doch es blieb beim 0:0. Haben Sie während des Spiels schon daran gedacht, was da als Schiedsrichter noch auf Sie zukam?

Ja. Mir war klar, dass es zu einer Entscheidung durch Münzwurf kommen musste. Nach dem Abpfiff schritt ich mit den beiden Mannschaftskapitänen, dem Italiener Giacinto Facchetti sowie Juri Istomin aus der Sowjetunion in Richtung Anstoßkreis. Ich nahm an, dass die Sache dort unter freiem Himmel stattfinden würde.

Aber?

Aber da kamen die beiden Verbandspräsidenten: Walentin Granatkin, damals Sportminister der UdSSR, und Artemio Francchi, der Präsident des italienischen Fußballverbands. Zwei sehr angesehene, einflussreiche Männer, die zu entscheiden hatten, was passieren sollte. Die Herren teilten uns mit, dass der Münzwurf unter Ausschluss von Spielern und Publikum stattfinden solle – also nicht auf dem Spielfeld, sondern an einem ruhigen, neutralen Ort. In meiner Kabine.

Wie haben Sie darauf regiert?

Für mich als Schiedsrichter war das nicht nachvollziehbar, aber ich musste das akzeptieren. Die Spieler waren auch verwundert über die Ansage, dass der Münzwurf in einem geschlossenen Raum stattfinden sollte.

Wer ging mit in die Katakomben?

Die beiden Kapitäne, die beiden Funktionäre und ich mit meinen Linienrichtern. Wir machten uns auf den Weg in die Katakomben, während die beiden Mannschaften draußen vor 70 000 Zuschauern warten mussten. Die Spieler lagen und saßen verstreut auf dem Rasen in der Sonne, schüttelten ihre Waden aus – als ob jetzt noch eine Verlängerung käme.

Waren die beiden Mannschaftskapitäne auch beim Münzwurf dabei?

Nein. Nur meine beiden Assistenten sollten anwesend sein, als neutrale Augenzeugen. Die Mannschaftkapitäne mussten vor der Tür auf dem Gang warten.

Also, in ihrem Umkleideraum versammelten sich jetzt der russische und der italienische Verbandspräsident, ihre beiden Schiedsrichterassistenten und Sie?

Genau, wir fünf. Wir schlossen die Kabinentür und der sowjetische Funktionär Walentin Granatkin fragte mich sofort, ob ich denn eine geeignete Münze habe. Ich sagte ja. Ich besaß eine schwere, türkische Spielmünze ohne Zahl – auf der einen Seite war ein Fußball abgebildet, auf der anderen ein Fußballtor.

Es war kein altes 10-Francs-Stück, wie es bisher in amtlichen EM-Quellen heißt?

Nein, es war meine Münze, eine spezielle, die ich schon länger für meine Seitenwahlwürfe in der Liga und bei Länderspielen benutzte. Ein türkischer Schiedsrichterkollege hatte mir die Münze geschenkt. Hier, schauen Sie: Man wählte nicht Kopf oder Zahl, sondern Ball oder Tor.

Wie haben Sie geworfen?

Im Stehen – so wie sonst auf dem Platz: mit rechts hochwerfen, mit links auffangen und auf den rechten Handrücken legen. Aber erst mal gab es einen Probewurf.

Einen Probewurf?

Ja. Der Russe Granatkin bat mich darum. Keine Ahnung, warum.

Und die Italiener waren einverstanden?

Artemio Francchi stimmte zu und überließ seinem russischen Kontrahenten für die Wurfprobe auch die Wahl der Münzseite. Granatkin setzte auf die Ball-Seite. Die Münze zeigte bei meinem ersten Wurf auch prompt Ball, womit die Sowjetunion weiter gewesen wäre.

Aber jetzt kam erst der zweite und entscheidende Wurf…

Der Probewurf hatte die angespannte Stimmung etwas gelockert. Granatkin überließ nun lächelnd dem Italiener Francchi die Wahl der Münzseite. Dieser setzte auf Tor – ich warf die Münze nochmal hoch und diesmal lag sie mit dem Tor-Emblem nach oben auf meinem Handrücken. Damit waren Spiel und Schicksal besiegelt – Italien war im Finale. Wir gaben uns alle die Hand, meine Assistenten notierten den Entscheid im Spielprotokoll. Insgesamt hatte das alles bestimmt zehn Minuten gedauert. Dann machten wir die Kabinentür wieder auf, um den beiden Kapitänen das Ergebnis mitzuteilen.

Wie reagierten die?

Der sowjetische Spielführer wirkte recht gefasst, zumal er von Granatkin direkt tröstend umarmt wurde. Der Italiener raste dagegen durch die Kabinengänge nach draußen, um seinen Mitspielern zu sagen, dass sie gewonnen hatten. Noch während ich im Gang mit den beiden Funktionären redete, brach da draußen ein unbeschreiblicher Jubel aus. Die Italiener tanzten ausgelassen auf dem Rasen herum, während die ersten russischen Spieler mit versteinerten Gesichtern bereits an mir vorbei in ihre Kabine schlichen.

Wäre Ihnen als Unparteiischer wohler gewesen, wenn es damals schon ein Elfmeterschießen gegeben hätte?

Auf jeden Fall. So ein Münzwurf ist ein Glücksspiel und war bei solch einem wichtigen Spiel mehr als unangemessen. Wissen Sie, was der russische Fußballpräsident zu mir direkt nach dem Münzwurf in der Kabine sagte? Er sagte, Herr Tschenscher, wir müssen für so eine Situation schnell eine andere Lösung finden, so etwas wie hier darf es nie wieder geben – wir brauchen ein Elfmeterschießen!

Es gab also neben Ihrem damaligen deutschen Schiedsrichterkollegen Karl Wald, der schließlich das Elfmeterschießen 1972 als internationale Regel bei der Fifa durchsetzen konnte, noch einen zweiten Erfinder der modernen Regel.

Wenn Sie so wollen, war es so. Granatkin hatte als Russe ja quasi am eigenen Leib erfahren müssen, wie ungerecht und untragbar so ein Münzwurf war, um einen Sieger zu ermitteln. Zwei Jahre später wurde er Fifa-Vizepräsident und half mit, Karl Walds Elfmeterregel-Vorschlag durchzusetzen.

Das Gespräch führte Mike Draegert.

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