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EM-Kolumne Europareise (5): Harte Erdbeeren

In unserer täglichen Kolumne kommentieren Jens Mühling, Marcel Reif, Moritz Rinke, Lucien Favre und Philipp Köster und im Wechsel die EM. Diesmal lernt Jens Mühling im ukrainischen Bus etwas über Arbeit in Polen.

Anatol und ich lernten uns in einem ukrainischen Bus kennen. Das Schicksal hatte uns auf benachbarten Sitzen platziert. Anatol war Ukrainer, aber er arbeitete in Polen, als Bauarbeiter. Hinter ihm lag eine anstrengende Fahrt. Nachts zuvor hatte ihn am Stadtrand von Warschau ein LKW aufgelesen und bis zur polnisch-ukrainischen Grenze mitgenommen. Die Grenze hatte Anatol zu Fuß überquert, jetzt fuhr er mit dem Bus weiter in seine zentralukrainische Heimatstadt Winniza, wo seine Frau auf ihn wartete, mit den drei Kindern.

Ich schätzte ihn auf Anfang 40, er schätzte mich auf Mitte 20. Als wir unsere Pässe verglichen, staunten wir beide: Anatol war drei Jahre jünger als ich, Jahrgang 1979. „Warum seht ihr im Westen alle so jung aus?“, fragte er. „Warum seht ihr im Osten alle so alt aus?“, wollte ich zurückfragen, aber ich biss mir auf die Zunge.

Er erzählte mir von seinen Jobs auf Polens Baustellen. Anatol arbeitete mal hier, mal dort, selten in den Innenstädten, wo zu viel kontrolliert wird, eher an den Stadträndern, wo es nicht auffällt, wenn nachts im Baucontainer ein Dutzend Ukrainer schnarcht. Bezahlen ließ er sich schwarz, viel verdiente er nicht, aber immer noch weit mehr, als er in der Ukraine für die gleiche Arbeit bekommen würde. Wenn es etwas zu tun gab, riefen die Polen ihn an, dann fuhr Anatol sofort los. Wenn es keine Arbeit gab, wie jetzt, schickten sie ihn nach Hause.

Auch Anatols Frau jobbte regelmäßig in Polen, als Erntehelferin. Vor ein paar Jahren, als Anatol einmal monatelang vergeblich auf einen Anruf der polnischen Baufirmen gewartet hatte, war er zusammen mit seiner Frau auf die Felder gefahren, Erdbeeren pflücken. Drei Tage hatte er durchgehalten. „Die schlimmste Arbeit, die ich je gemacht habe“, sagte er. „Mein Rücken hat mich umgebracht. Nie wieder mache ich das. Dann lieber Baustellen.“

Wenn Anatol und seine Frau in Polen unterwegs sind, geben sie ihre Kinder in die Obhut der Schwiegereltern. Der Jüngste beschwert sich manchmal, dass er seine Eltern so selten zu sehen bekommt. Die beiden Älteren haben sich dran gewöhnt.

Ich erzählte Anatol, dass auf den Baustellen und Erdbeerfeldern in Deutschland viele Polen arbeiten, deren Kinder ebenfalls ohne Eltern aufwachsen.

„Ich weiß“, sagte Anatol. „Es ist überall das Gleiche. Alle wollen nach Westen, dahin, wo es mehr Geld gibt. Die Ukrainer arbeiten in Polen, die Polen in Deutschland, und die Deutschen ... in Amerika, oder?“

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