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Ukraine 12 Points. Mit ihrem, wenn auch etwas eintönigen, Fangesang vertreiben die Ukrainer sogar Wolken. Foto: dapd

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EM  Nebenschauplatz: Die Ukraine im Ohr

Heute Morgen dachte ich, ich hätte ihn verloren. Einfach so.

Heute Morgen dachte ich, ich hätte ihn verloren. Einfach so. Wie einen Schluckauf. Doch schon beim Kaffee auf dem Balkon kam er zurück. Ein durchdringender Schlachtruf. Er ist einfach zu merken. Er geht so: „U-KRA-JI-NA! U-KRA-JI-NA! U-KRA-JI-NA!“

Es ist der einzige nennenswerte Anfeuerungsruf der ukrainischen Fans. Er wird zu jeder Zeit und an jedem Ort geschmettert. Mal auf einer öffentlichen Toilette, dann in der Metro. Mal summt jemand nur die Silben, mal schreit sich jemand die Seele aus dem Leib. Mal nervt er, mal nervt er sehr. Seit Freitag aber mag ich ihn. Denn da hat er uns allen den Abend gerettet.

Ich besuchte zum ersten Mal die Fanmeile von Kiew, es war kühl geworden. Das tat gut nach all den Hitzetagen zuvor. Wir sahen das Spiel Ukraine gegen Frankreich auf einer der großen Leinwände. Die Ukrainer sangen sich schon den ganzen Tag über warm: „U-KRA-JI-NA!“ Doch richtig laut wurden sie dieses Mal nicht. Die Anspannung.

Um 19:05 Uhr blickten sie gebannt auf den Bildschirm und sahen, wie Donezk im Regen ertrank. Wassermassen rannen die Stufen herab, Menschen tanzten durch Pfützen und machten Schwimmbewegungen auf den Tribünen.

Doch dann zog auch in Kiew der Himmel zu. Das Thermometer sank innerhalb weniger Minuten auf 16 Grad. Kalter Wind, murmeldicke Regentropfen, so lustig das in Donezk anzusehen war, so wenig hatte hier jemand Lust auf eine solche Sintflut.

Die meisten Menschen suchten Unterschlupf unter den Vorsprüngen der unzähligen Bürogebäude an der Khreshchatyk Allee. Da kauerten sie nun und hofften, dass alles gut würde.

Doch eine Gruppe von Leuten trotzte auch hier dem Regen. Sie stand dort, mitten auf der Fanzone und wartete und begann zu tanzen. Dann fing einer an: „U-KRA-JI-NA!“. Der Zweite stimmte ein: „U-KRA-JI-NA!“. Irgendwann waren sie 20, 30, dann 200, schließlich 1000. Sie brüllten: „U-KRA-JI-NA! U-KRA-JI-NA! U-KRA-JI-NA!“ Und die Menschen unter ihren Regenschirmen stimmten ein: „U-KRA-JI-NA!“ Die Menschen unter den Vorsprüngen: „U-KRA-JI-NA!“ Die Menschen an den Metrostationen: „U-KRA-JI-NA!“ Dann, da hinten ein Kind auf den Schultern seines Vaters, der alte Mann, der sich an der Laterne abstützte, die beiden Ultra-Typen, all die Victoria Beckhams und Paris Hiltons von Kiew, die Jungs mit der blau-gelben Farbe im Gesicht: „U-KRA-JI-NA!“. Alle: „U-KRA-JI-NA!“

Und dann war der Himmel wieder blau. Sie hatten die Wolken weggebrüllt. Das 0:2 gegen Frankreich war dann nicht auch noch zu verhindern.Andreas Bock

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