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Sport: Ende der großen Depression

Zum ersten Mal seit 1918 gewinnt das Baseball-Team der Boston Red Sox die World Series

Ein Fan der Boston Red Sox zu sein, das bedeutete zu leiden. Für das Baseball-Team schwärmte man nicht, weil es die schönsten Trikots hat oder den besten Rekord. Sein Herz an das Team zu hängen, war wie ein Abonnement auf eine Depression. Als seine Eltern den achtjährigen Bill Ryan zum ersten Mal mit ins Stadion nahmen, gaben sie ihm die perfekte Anleitung für ein Leben als Red-Sox-Fan: „Enttäuschungen formen den Charakter.“ Team-Mitbesitzer Tom Werner drückt das Phänomen so aus: „Wir kennen Leute, die 90 Jahre alt sind und die uns anflehen: Nur eine Meisterschaft, bevor ich sterbe.“

Sie können sich zur Ruhe begeben. Seit Mittwoch, 22.40 Uhr Ortszeit St. Louis, gilt der alte Fluch nicht mehr. 3:0 besiegten die Red Sox die St. Louis Cardinals im vierten Spiel der World Series, der Finalserie der Major League Baseball (MLB), und deklassierten die beste Mannschaft der regulären Saison mit 4:0-Siegen. Als Boston das letzte Mal die Trophäe ins Klubhaus getragen hatte, durften die Frauen in Amerika noch nicht wählen, die Große Depression war für die nächsten zehn Jahre nicht in Sicht, der Aufstieg und Fall des Sowjet-Imperiums stand bevor. Man schrieb das Jahr 1918.

Das Datum wurde für Boston zur magischen Zahl. „1918“ schrien die gegnerischen Fans, um die Red Sox zu verhöhnen. Und weil es einen Grund für die unzähligen Male geben musste, die Boston kurz davor stand, den Titel zu gewinnen, nur um dann doch zu scheitern, wurde die Legende von „The Curse“ – dem Fluch – geboren. Die Geschichte kennt in Amerika jedes Kind. Demnach war es der Verkauf von Baseball-Legende Babe Ruth an die New York Yankees nach der Saison 1918/1919, der über Boston alles Unglück brachte. Während der Erzrivale aus New York bereits im Jahr darauf seine erste Meisterschaft gewann, der dann 25 weitere folgten, nahmen die Sox irgendwann hin, dass es ihnen nicht beschieden war, jemals wieder zu siegen.

Auch in diesem Jahr wäre New York beinahe die Endstation gewesen. 3:0 führten die Yankees in der Best-of-seven-Serie, drei Batter der Red Sox mussten sie noch nach Hause schicken, dann wären sie ins Finale eingezogen. Doch entgegen aller Wahrscheinlichkeit und trotz des Fluches gaben die Roten Socken kein Spiel mehr ab. Ob es Pitcher Curt Schilling war, der mit frisch operierten Sehnen auf den Wurfhügel stieg, oder Manny Ramirez, der die Bälle in den Nachthimmel schlug, dass es eine Freude war – plötzlich lief alles zusammen, was früher so garantiert schief gegangen war.

Schon der Einzug in die Finalserie brachte die als kühl geltenden Neu-Engländer so sehr aus dem Häuschen, dass die Polizei eingreifen musste. 80 000 strömten nach dem Erfolg gegen die Yankees auf die Straßen von Boston, angeblich waren 87 Prozent aller in der Region vorhandenen Fernseher dazu verwendet worden, den Triumph im Yankees-Stadion live zu verfolgen. Die Feiern gerieten so außer Rand und Band, dass die Polizei mit Pfeffer-Patronen in die Menge feuerte und dabei eine junge Frau tötete. Daraufhin wurden Fernsehkameras in den Bars mit dem Argument verboten, dass deren Anwesenheit die jungen Leute zur Gewalttätigkeit anstachele.

Unbeeindruckt fegten die Red Sox dann also die Cardinals hinweg – und Tim Wakefield, der dienstälteste Boston-Pitcher, sagte: „Wir werden nie wieder den Spottgesang ,1918’ hören. Es ist einfach Wahnsinn für die Stadt und für die Leute, die mit so vielen traurigen Tagen fertig werden mussten.“ Vielleicht steht der Mannschaft zur Belohnung noch ein Empfang im Weißen Haus bevor. Dann nämlich, wenn der berühmteste Fan und nach dem Sieg erste Gratulant, John Kerry, am 2. November die Präsidentenwahlen gewinnt.

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