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Kick it like Vardy. Mit der Hacke erzielt Leicesters Stürmer den 2:2-Ausgleich.

© Reuters

England nach dem 3:2 gegen Deutschland: Die schönste Nacht soll noch kommen

"Darauf können wir schon stolz sein", meinte Englands Trainer Roy Hodgsons nach dem 3:2-Sieg im Olympiastadion. Und es spricht einiges dafür, dass sein Team auch bei der EM für die Deutschen gefährlich werden könnte.

Der letzte Kick war nicht die Entscheidung, aber doch der letzte Kick. Der ultimative Höhepunkt eines Spiels, das die Deutschen wahrscheinlich schnell abhaken werden, den Engländern aber ein Selbstwertgefühl bescherte, das noch ein Weilchen erhalten bleibt, auch und gerade wegen des Ergebnisses. An diesem Karsamstag im Berliner Olympiastadion, als Englands Fußball-Nationalmannschaft einen 0:2-Rückstand in der letzten halben Stunde noch zu einem 3:2-Sieg drehte.

Eine Viertelstunde vor Schluss flankte Nathaniel Clyne  von rechts in den Strafraum, wo Jamie Vardy im kalten Berlin gar nicht daran dachte, warm zu werden, er war es doch schon längst. Der Stürmer von Leicester City hatte erst vier Minuten zuvor den Platz betreten, seine erste Szene war ein harmloser Doppelpass auf jener rechten Seite, aber kurz darauf hatte er schon seinen Platz in der Mitte gefunden. Dann flankte Clyne von rechts, Vardy stand mit dem Rücken zum Tor und bugsierte den Ball mit einem Fersenkick zum 2:2 ins Tor, wie es noch lange in Erinnerung bleiben wird. „Der hat schon gute Bewegungen“, sprach der deutsche Mittelstürmer Mario Gomez, ein durchaus ernst zu nehmender Sachverständiger.

Vardy ist in diesen Tagen eine gar nicht so kleine Sensation in England. Er ist 29 Jahre alt, geht damit kaum mehr als Talent durch und ist doch gerade durch den Aufschwung des vormaligen Abstiegskandidaten Leicester zum Meisterschaftsaspiranten Nummer eins „some kind of sensation“, wie man das in England formuliert. Mit 19 Toren hat er seinen Klub auf Platz eins der Premier League geschossen – und in Berlin sein erst fünftes Länderspiel absolviert. Sein spektakulärer Ausgleich am Samstag in Berlin drehte ein Spiel, von dem kaum noch einer gedacht hatte, dass es noch einmal gedreht werden könnte.  

Vardy steht als Symbol für dieses andere, dieses neue England, das da in ein paar Monaten bei der Europameisterschaft in Frankreich auch für die Deutschen gefährlich werden könnte. Ein England, das sich emanzipiert hat von der Generation Beckham-Lampard-Terry, das früher „große Namen hatte, aber nichts gewonnen hat“, auch dies eine Einschätzung von Mario Gomez.

Am Ende siegten die Engländer durch ein spätes Tor von Eric Dier. „Darauf können wir schon stolz sein“, sagte Trainer Roy Hodgson. Er wäre „auch, wenn nicht wir, sondern die Deutschen das dritte Tor geschossen hätten, nicht enttäuscht gewesen“. Aber so ein Sieg in Berlin war schon ein wichtiger Schritt nach vorn. In Richtung Europameisterschaft, bei  der Hodgson seine Mannschaft noch lange nicht als Favorit empfindet, denn „der Weg dorthin, wo die Deutschen sind, ist noch  weit“. Aber sie wollen ihn gehen, mit einer Mannschaft, die so jung und talentiert und aufregend ist wie keine mehr, seitdem sie bei der EM 2004 in Portugal mit dem 19-jährigen Wayne Rooney auftrumpften und ein Versprechen für die Zukunft abgaben, das doch nie eingelöst wurde.

Wayne Rooney fehlte verletzt - vermisst hat ihn niemand im englischen Team

Rooney spielt heute wie damals bei Manchester United, er ist im vergangenen Herbst 30 geworden und am Knie verletzt, aber hat ihn jemand vermisst? Im Konzert dieser jungen und gar nicht Wilden, sondern höchst diszipliniert auftretenden Mannschaft?  Es war ja nicht nur der Charakter, mit dem sie ein Spiel umgebogen hatte, das nach einem 0:2-Rückstand doch schon fast verloren war. Es war vor allem die Art und Weise, mit der England schon vorher aufgespielt hatte.

„Diese Niederlage war nicht ganz unverdient“, befand Hodgsons deutscher Kollege Joachim Löw, und niemand mochte widersprechen. Interessanterweise war es nicht mehr das England von Chelsea, Arsenal und Manchester, das da über sich hinauswuchs. Es war das England von Tottenham und Leicester.

Die beiden Überraschungsmannschaften der Premier League stellten nicht nur die meisten, sondern auch die besten und entscheidenden Spieler des neuen England. Leicester Vardy schoss das schönste Tor, die beiden anderen kamen von Tottenhams Harry Kane und Eric Dier. „Wir haben immer an uns geglaubt, auch nach dem 0:2“, sage Stürmer Kane, er hat in dieser Saison schon 21 Tore für Tottenham erzielt. Und der Mittelfeldmann Dier schwärmte von „diesem wunderschönen Gefühl, hier zu spielen und zu gewinnen“.

Und dann war da nach Dele Alli. Sohn eines Nigerianers und einer Engländerin, sein Vorname Bamidele ist längst anglisiert. Der Mittelfeldmann von Tottenham Hotspur  wird erst in ein paar Wochen zwanzig und spielt doch mit dem Auge und dem Spielverständnis eins 35-Jährigen. Alles, was dieses Bürschchen mit der prestigeträchtigen Nummer 10 auf dem Rücken am Samstag in die Füße nahm, war herausragend. Mal abgesehen von dem Schuss kurz vor Schluss über das verwaiste deutsche Tor, das schon vor Diers spätem Tor den Sieg hätte bedeuten können.

Roy Hodgson widmete Alli denn auch ein paar Sätze, aus ihnen sprach Hochachtung genauso wie Warnung. „Er hat jetzt vier Länderspiele gemacht. Aber er hat nicht mal ein Spiel in der U21 absolviert, er ist gleich aus der U19 zu uns gekommen.“ Und: "Wir wollen in diesen Sieg nicht zu viel hereininterpretieren, das war ein Freundschaftsspiel. Wichtig ist, dass wir jetzt weiter arbeiten und bescheiden bleiben.“ Später am Abend ist Hodgson dann gefragt worden, ob dies seine schönste Nacht als englischer Trainer gewesen sei. „Na, ich hoffe doch, die schönste kommt noch“, sprach der Mann mit der weißen Mähne. „Sagen wir mal so: Es war die schönste bis heute.“

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