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Held unter Helden. Horst Hrubesch (hier beim bisher letzten Meistertitel des HSV 1983) war einer von vielen legendären Fußballern, die für die Hamburger gespielt haben.

© Imago

Entscheidung in der Bundesliga: Der Hamburger SV und die Angst vor dem erstmaligen Abstieg

Als letztes noch nicht abgestiegenes Bundesliga-Gründungsmitglied könnte der Hamburger SV am Samstag absteigen. Noch aber klammern sich Fans, Bosse und Spieler an den letzten Strohhalm.

Bjarne Mädel faltet seine Hände über den Bauch, er ist so stattlich, wie man ihn aus seiner Rolle als Ernie Heisterkampf in der Fernsehserie „Stromberg“ kennt. Jetzt aber geht es vor der Kamera nicht um Slapstick im Büro. Es geht um Größeres. Um alles. Um den HSV.

Über dem stattlichen Bauch trägt Mädel eine blaue Trainingsjacke und darunter ein weißes Fußballtrikot, auf beiden ist das Hamburger Klubemblem aufgestickt. Neben ihm sitzt der Kollege Olli Schulz, auch er hat ein HSV-Leibchen übergestreift, und gemeinsam plaudern sie für das ZDF-Sportstudio über denkwürdige Stunden ihres Herzensklubs. Meisterschaft, Europapokal, Champions League. „Und weißte noch, wie wir abgestiegen sind?“, fragt Schulz. „2014. Erst gegen Bayern verloren, dann in Mainz und dann direkt ab in die Zweite Liga!“

Halt, Stop, Break. Die Kamera ist offenbar weiter als die Wirklichkeit. Der HSV spielt doch erst am Samstag in Mainz. Aber die künstlerische Freiheit ... also, weiter im Dialog, und was den Abstieg betrifft:

„Nee, das hab ich anders in Erinnerung“, sagt Bjarne Mädel. „Wir haben in Mainz gewonnen, dann in die Relegation und dann hat Lasogga zwei Tore gemacht.“ – „Lasogga? Der war doch gar nicht dabei!“ – „Natürlich. Erst Relegation, und dann hat der die Erste Liga gehalten. Wir sind nie abgestiegen!“

Hauptsache Lasogga spielt

Die Kunst kennt keine Zeit und der HSV keine Angst. Weiter also. Der Schauspieler Bjarne Mädel, gebürtiger Hamburger, wohnt seit ein paar Jahren in Berlin, kleines Zugeständnis an die Freundin. Aber deswegen gleich Hertha BSC die Daumen drücken … also, so weit geht die Liebe nun auch nicht. Der Mann ist HSV-Fan, und wenn es ums Ganze geht, beamt er sich für einen lustig und doch bitter ernst gemeinten Fernsehspot schon mal in eine fernere Zukunft, auf dass sich die nähere am Samstag in Mainz noch zurechtbiegen lässt. Hauptsache Lasogga spielt.

Pierre-Michel Lasogga, der einzige HSV-Stürmer, der ab und zu das Tor trifft, von dem aber keiner so genau weiß, ob er in Mainz mitspielt, weil er seit Wochen verletzt ist. Noch einmal beamt sich Bjarne Mädel vor der Kamera in die Zukunft und sagt: „Wir sind nie abgestiegen!“

An der Elbe wird der 825. Geburtstag des Hafens gefeiert

Hamburg steht vor einem anstrengenden Wochenende. An der Elbe wird der 825. Geburtstag des Hafens gefeiert, Helene Fischer singt auf St. Pauli, aber in Gedanken werden die meisten Hamburger in Mainz sein. Beim letzten Bundesligaspiel dieser Saison, vielleicht sogar für etwas längere Zeit. Mädel und Schulz zittern und mit ihnen hunderte, tausende, zehntausende Fans, die der HSV hinter sich versammelt. In Hamburg, aber nicht nur dort. Der HSV ist nicht irgendein Sportverein, er ist eine Macht, und früher war er sogar eine Weltmacht. Als Franz Beckenbauer 1980 aus dem New Yorker Exil nach Deutschland zurückkehrte, ging er nicht zu Bayern München, sondern nach Hamburg. 1983 gewann der HSV den Europapokal der Landesmeister, den Vorläufer der Champions League.

Noch immer ist der Hamburger SV der einzige Klub, der in allen 51 Jahren der Bundesliga angehört hat. Er stand schon öfter dicht vor dem Abstieg, aber noch nie so dicht wie an diesem Wochenende. Sollte heute das letzte Saisonspiel in Mainz verloren gehen und zur selben Stunde Nürnberg in Schalke gewinnen oder Braunschweig in Hoffenheim, dann ist Schluss. Im besten Fall darf der HSV die Saison verlängern, um zwei Entscheidungsspiele gegen den Dritten der Zweiten Liga zu bestreiten. Gegen Kleinstadt-Prominenz aus Paderborn, Fürth oder Kaiserslautern.

5000 Fans begleiten die Mannschaft zum Spiel nach Mainz

5000 Fans werden mitreisen zum Saisonfinale nach Mainz. 3500 Karten stehen dem HSV ohnehin zu, den Rest besorgt sich die Anhängerschaft über das Mainzer Kontingent. Die Stimmung unter ihnen ist trotz Platz 16 erstaunlich gut. Beim Abschlusstraining vor dem Bayern-Spiel kamen fast 1000 Anhänger am 1. Mai, einer hatte ein Mikrofon dabei und rief trotzig hinein: „Und wir sind das Urgestein.“ Zwei Tage später, nach dem 1:4 gegen die Bayern, jubelten die Zuschauer den HSV-Profis zu. Nur eine Ehrenrunde hätte noch gefehlt.

Jetzt, da es schon fast zu spät ist, rückt die Stadt zusammen

Noch vor vier Wochen hatten dieselben Fans ihre Mannschaft nach dem 1:3 gegen Wolfsburg aus der Arena gepfiffen. Jetzt, da es schon fast zu spät ist, rückt die Stadt zusammen. Es gibt auch ein bisschen prominenten Beistand, nachdem die Hamburger Stadtgesellschaft in den Wochen zuvor den Niedergang ihres führenden Sportunternehmens nahezu gleichmütig hingenommen hatte. Bjarne Mädel und Olli Schulz mobilisieren über ihren Spot im ZDF deutschlandweit Unterstützung, beim letzten Heimspiel gegen die Bayern saß der Erste Bürgermeister Olaf Scholz im Stadion am Volkspark, zum Saisonfinale nach Mainz wird er gemeinsam mit seinem Innen- und Sportsenator Michael Neumann anreisen. „Es kann doch nicht sein, dass die Bundesliga ohne den HSV spielt“, sagt Neumann, obwohl der aus Dortmund stammt und sich eigentlich mehr für Handball interessiert.

Am Ende einer desaströs verlaufenen Saison muss der HSV im Schneckenrennen mit Nürnberg und Braunschweig immer wenigstens Platz 16 behaupten. Rettung tut not, denn das Stammtischgerede vom heilsamen Abstieg, es ist bei den mit 100 Millionen Euro verschuldeten Hamburgern völlig fehl am Platz. Im Abstiegsfall wird die Deutsche Fußball-Liga vom HSV fordern, einen Bilanzüberschuss von 20 Millionen Euro zu erzielen und den Etat von derzeit 40 Millionen Euro auf 23 Millionen zu senken. Dann wären sie alle ganz schnell weg, von Torwart René Adler über den in der ganzen Liga begehrten Mittelfeldspieler Hakan Calhanoglu bis zu Bjarne Mädels Hoffnungsträger Pierre-Michel Lasogga, der als einziger HSV-Stürmer ab und zu das Tor trifft.

Lasogga aber ist eh nur ausgeliehen, aus Mädels neuer Heimatstadt Berlin. Es sagt einiges über die Kompetenz der Hamburger Unternehmensführung, dass der sportliche Überlebenskampf so eng verbunden ist mit einem 22-Jährigen, der eher zufällig beim HSV gelandet ist. Im vergangenen Herbst, am letzten Tag der Transferperiode. Lasogga kam nur zum HSV, weil der Aufsteiger Hertha BSC keine Verwendung für ihn hatte und im Tauschgeschäft den Hamburger Mittelfeldspieler Per Ciljan Skjelbred haben wollte. Ohne die bislang zwölf Tore dieses Verlegenheitstransfers könnte der HSV jetzt schon mit einiger Verlässlichkeit für die Zweitklassigkeit planen. Lasoggas Vertrag in Berlin läuft aber noch ein weiteres Jahr, und für den Sommer besteht Hertha auf eine Rückkehr, was die Hamburger Planungen nicht einfacher macht. In welcher Liga die Zukunft des HSV auch immer spielt.

Der HSV lässt sich immer noch von der Basis regieren

In seiner Eigenwahrnehmung ist der HSV immer noch ein Weltklub, aber er ist beliebig geworden. Mit Managern und Trainern, die im Jahrestakt ausgetauscht werden wie der Name des Stadions, das immer noch am Volkspark steht, aber immer mal wieder nach einem neuen Sponsor benannt wird. Die Konkurrenz aus München oder Dortmund wird seit Jahren im Stile von Wirtschaftsunternehmen gelenkt. Der HSV lässt sich immer noch von der Basis regieren, und nur die kann in letzter Konsequenz über eine Ausgliederung nach dem Vorbild aus München oder Dortmund entscheiden, wie sie im Januar von der Mitgliederversammlung in Aussicht gestellt wurde. Das Rettung verheißende Modell nennt sich HSV Plus, es wird getragen von ehemaligen HSV-Granden, deren Qualifikation vor allem darin besteht, dass sie ehemalige HSV-Granden sind. Am 25. Mai steht die entscheidende Abstimmung an. 75 Prozent der Mitglieder müssen dem Modell zustimmen. Die Abstimmung wird eingerahmt von zwei nicht ganz unwichtigen Terminen. Bis zum 22. Mai muss der HSV seine Unterlagen bei der DFL einreichen. Am 28. Mai entscheidet der Lizenzierungsausschuss.

Weil nun der HSV bei der Modernisierung ein bisschen spät dran ist und bei Investoren nicht die große Wahl hat, ist er bei allen Erneuerungsversuchen abhängig von Egomanen wie dem Spediteur Klaus-Michael Kühne. Als der dem HSV im Sommer 2012 ein Darlehen gab, musste dieses für den Kauf von Kühnes Lieblingsspieler Rafael van der Vaart verwendet werden. Der Niederländer hat von 2005 bis 2008 schon mal in Hamburg gespielt, es war die letzte halbwegs glanzvolle Phase. Für beide, den HSV und van der Vaart.

Der Hamburger Vorstand um den Chef Carl-Edgar Jarchow und seinen Sportdirektor Oliver Kreuzer würde am liebsten keine neuen Geschäftsbeziehungen mit Kühne eingehen. Das ist schon mal deshalb verständlich, weil Kühne selbst wenig hält von Leuten wie Kreuzer, den er in der Öffentlichkeit als Drittliga-Manager bezeichnet, weil er vom Drittligisten Karlsruhe nach Hamburg kam. Oder Jarchow, einem FDP-Politiker und Unternehmer, der an der Basis zu kämpfen hat mit dem Ruf eines fußballfremden Funktionärs.

Früher war der HSV eine Weltmacht - jetzt steht er am Abgrund

In der Frage, was eigentlich die Ursünde war bei dem ganzen Schlamassel, kann man sich ganz schön verheddern. Da ist das teure Stadion, der ewige Intrigantenstadel namens Aufsichtsrat, die seltsame Handhabung von Personalien. Vor ein paar Jahren etwa verhandelte der HSV mit einem jungen Trainer und entschied sich gegen dessen Anstellung, weil er unrasiert war und löchrige Jeans trug, als ein Hamburger Scout ihn beobachtete. Der Mann hieß Jürgen Klopp. Lotto King Karl will erst gar nicht daran denken, welche Entwicklung sein Klub unter Klopp vielleicht genommen hätte. Ihm genügt eine Aufzählung all der Spieler, „die wir mal hatten, Leute wie Barbarez, Petric oder Son, die waren immer mal für eine Aktion gut, die konnten ein Spiel entscheiden, beruhigen oder auch nur auf den richtigen Weg bringen. Und wir hatten Leute wie de Jong oder Jarolim, die haben 80 Prozent ihrer Zweikämpfe gewonnen, auch wenn es vielleicht manchmal komisch aussah. Heute müssen wir sagen: Sorry Leute, wir haben nicht mehr so viele Anker.“

Lotto King Karl ist Musiker und Stadionsprecher beim HSV. Eigentlich heißt er Gerrit Heesemann, aber wer weiß das schon auf der Nordtribüne, wo er vor jedem Heimspiel seine Hymne „Hamburg meine Perle“ spielt und damit auch die ganz harten Jungs zu Tränen rührt. Die Fans nennen ihn Lotto, und er kommt wie sie über die emotionale Ebene. Barbarez, Petric, Son oder de Jong – das waren keine Weltstars. Aber eben doch Spieler der gehobenen Art, wie sie in ihrer Anhäufung auf Dauer zu teuer waren für einen Klub, der sich mit dem ehrgeizigen Totalumbau des Stadions übernommen hatte. Jedes Jahr musste einer von der Gehaltsliste gestrichen werden, aber die Mannschaft wurde nicht viel billiger, und die Ansprüche blieben unverändert hoch.

Ein Generalvorwurf an den Klub und seine Stadt war in den Augen anderer Fans immer: die ständige Überhöhung. Der ewige Rückgriff auf alte Zeiten und Erfolge. Das Gerede vom Europapokal, wo doch die Abstiegszone immer näherrückte. Lotto kann gut nachvollziehen, dass dem HSV nun Häme und Schadenfreude entgegenschlagen. Er sagt: „In den letzten Jahren, wenn es mal eng wurde, habe ich gesagt: Leute, ein Hauch Demut täte uns gut – als ich die Bilder vom Abstieg aus Köln oder Berlin gesehen habe, habe ich nur gedacht: Das hätten wir auch sein können. Und zuletzt blieb oft nur noch die Hoffnung, dass irgendeiner aus Scheiße Gold macht.“

Vielleicht wird ja in den ausstehenden Spielen doch noch etwas repariert. Das mit der größeren Demut aber ist dem selbsternannten Weltverein in der selbsternannten schönsten Stadt der Welt schwer zuzutrauen. So weit in die Zukunft kann sich nicht mal Bjarne Mädel beamen, wenn er die Hände zusammenfaltet über dem mächtigen Bauch im HSV-Trikot.

Egal, Hauptsache Lasogga spielt.

Anm. d. Red.: In einer vorherigen Version des Artikels ließen wir fälschlicherweise Olli Dittrich im Zusammenspiel mit Bjarne Mädel über den HSV sinnieren. Natürlich handelt es sich stattdessen um Olli Schulz. Wir danken für die Hinweise und bitten um Nachsicht.

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