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The Star-Spangled Banner.

© IMAGO

Sport: Es war ein Kulturschock *

Mein WM-Moment (10) Tom Dooley hat sein Leben in Deutschland verbracht, als er mit 33 Jahren sein WM-Debüt gibt. Für die USA, die Heimat seines Vaters. Dort erlebt er den Ausbruch des Fußballfiebers

Wenn man so wie ich mit 33 Jahren noch zu seiner ersten WM-Teilnahme kommt, gibt es natürlich sehr viele Momente, die man nicht vergisst. Aber einer hat mich 1994 ganz besonders bewegt.

Dazu muss man die Vorgeschichte erzählen. In der Vorbereitung auf das Turnier haben wir in Orange County trainiert. Auf dem Weg von unserem Hotel in Daina Point zum Trainingsplatz wurden wir immer von einer Polizeieskorte begleitet; wenn wir auf die Autobahn auffuhren, wurde extra für uns der Verkehr angehalten – und das mitten in der Rush Hour. Jeden Tag haben wir einen riesigen Stau verursacht. Man konnte den Leuten ansehen, wie sie sich aufgeregt haben. An der Strecke zu unserem Trainingsgelände, noch ganz in der Nähe unseres Hotels, gab es einen Sportkomplex mit fünf oder sechs Basketball-Courts. Die waren jeden Tag besetzt, aber niemand hat es registriert, wenn wir dort mit Polizeieskorte und Blaulicht vorbeifuhren. Irgendwann ist mir der Kragen geplatzt: „Das kann doch nicht sein! Hier findet das größte Sportevent der Welt statt, und es interessiert keinen Menschen!“

Für mich war das fast ein Kulturschock. Aus Deutschland kannte ich natürlich eine ganz andere Begeisterung für den Fußball. Trotzdem war es für mich ein Glücksfall, dass ich quasi über Nacht amerikanischer Nationalspieler geworden war und an der WM in den USA teilnehmen konnte. Durch meinen amerikanischen Vater hatte ich die US-Staatsbürgerschaft bekommen. Als ich ein Jahr alt war, musste er wieder in die Vereinigten Staaten zurück; meine Mutter wollte kurze Zeit später nachreisen, doch der Kontakt ist dann sehr schnell abgerissen. Deshalb besaß ich auch überhaupt keinen Bezugspunkt in den USA. Nachdem meine Mutter meinen Stiefvater kennengelernt hatte, war das Thema sowieso gegessen.

Das Land aber hat mich schon immer fasziniert. Wenn ich mir als Kind Olympische Spiele im Fernsehen angeschaut habe, galten meine Sympathien immer den Sportlern aus Amerika, und wenn die Nationalhymne gespielt wurde, fand ich das richtig ergreifend. Trotzdem habe ich geschwankt, als ich das Angebot bekam, für das US-Team zu spielen – weil ich wusste, dass es alte Geschichten aufwühlen würde. Ich wollte meinen Stiefvater nicht verletzen. Er aber hat zu mir gesagt: „Natürlich musst du das machen! Das ist deine Riesenchance.“

Ich habe damals kaum Englisch gesprochen, weil ich auf der Schule im Saarland als erste Fremdsprache Französisch gelernt hatte. Ich wusste aber, dass ich nach dem ersten Training mit der Nationalmannschaft Interviews geben musste. Also habe ich mir die sieben oder acht Fragen überlegt, die man mir stellen würde, und mir die dazu passenden Antworten aufgeschrieben. Den Zettel habe ich dann meiner Privatlehrerin gegeben und sie gebeten, mir die Sätze ins Englische zu übersetzen. Das hat perfekt funktioniert. In den Zeitungen hieß es anschließend, mein Englisch sei super. Weitere Interviewwünsche habe ich aber an diesem Tag abgelehnt. Mein Repertoire war erschöpft.

Vor der WM waren wir ein Jahr mit dem ganzen Kader zusammen, wir haben wie eine Klubmannschaft trainiert und 32 Testspiele bestritten. Es gab damals noch keine Profiliga. Die meisten Spieler kamen vom College, trotzdem hat man in den USA gedacht, dass wir mit diesem Team Weltmeister werden müssten. Das war völlig utopisch. Ich habe damals gesagt: Wenn wir die zweite Runde erreichen, ist das so, als würde Deutschland ins Endspiel kommen.

Wir haben dann tatsächlich die Vorrunde überstanden. Im zweiten Gruppenspiel besiegten wir Kolumbien 2:1. Als wir am Tag danach wieder an den Basketballplätzen vorbeikamen, war alles anders. Die Leute haben aufgehört zu spielen, sie rannten an den Straßenrand, haben uns applaudiert und „USA! USA!“ gerufen. Es war ein unglaubliches Gefühl zu erkennen, dass wir nicht alleine waren, sondern einen riesigen Rückhalt hatten und alle Amerikaner hinter ihrer Nationalmannschaft standen.

Aufgezeichnet von Stefan Hermanns. Nächste Folge: Hans Krankl über Cordoba.

* WM 1994, Tom Dooley

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