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Sport: „Europa muss verstehen, wir sind nicht irgendwer“ Brasiliens Nationaltrainer Parreira ärgert sich über arrogante Klubs, lobt Jürgen Klinsmann und findet Ailton zu alt für seinen Kader

Herr Parreira, erinnern Sie sich an die letzte Begegnung mit Jürgen Klinsmann? Aber ja, das ist noch gar nicht so lange her.

Herr Parreira, erinnern Sie sich an die letzte Begegnung mit Jürgen Klinsmann?

Aber ja, das ist noch gar nicht so lange her. Das war bei der EM in Portugal. Und wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, dann sind wir uns zuletzt im Stadion von Porto bei der Partie Frankreich gegen England begegnet und haben uns unterhalten. Davor habe ich ihn zwei oder dreimal in Brasilien getroffen, als ich noch Vereinstrainer war. Außerdem kennen wir uns aus den USA. Er hat dort mit Bekannten von mir gearbeitet.

Damals war er noch nicht Trainer der deutschen Nationalmannschaft.

Und das haben wir uns wohl damals beide nicht im Traum vorstellen können, dass wir uns als Kollegen beim kommenden Freundschaftsspiel treffen werden.

Auch in Deutschland muss man sich erst daran gewöhnen, dass der ehemaliger Stürmer Klinsmann sein Trainerdebüt ausgerechnet bei der Nationalmannschaft feiert. Was halten Sie davon?

Ich schätze Klinsmann sehr. Als Menschen und als Kollegen aus dem Fußballmetier. Er ist ohne Zweifel ein charismatischer, intelligenter und aufgeschlossener Fußballkenner, der als Spieler einen großen Beitrag für den deutschen Fußball geleistet hat. Und ich glaube, dass er auch in seinem neuen Amt noch einiges für Deutschland leisten wird. Mit der Auswahl seiner Mitarbeiter hat er bereits bewiesen, dass er sich der Tragweite seiner neuen Aufgabe durchaus bewusst ist.

Unter Ihrem Kommando traf die Seleção im Sommer 1993 in einem Turnier in den USA auf Deutschland. Die Partie endete 3:3, und der Stürmer Klinsmann hatte zwei Tore erzielt. Erinnern Sie sich noch daran?

Und ob ich mich noch daran erinnere. Es war ein sehr komisches Spiel. Wir haben in der ersten Halbzeit das Spiel kontrolliert und bis zur Pause 3:0 geführt. Ich habe meine Spieler in der Halbzeit gewarnt. ,Die Deutschen geben nie auf. Vorsicht!’ Und dann haben sie tatsächlich noch den Ausgleich geschafft.

Ihre letzte Begegnung mit Deutschland als brasilianischer Nationaltrainer fand im November 1993 in Köln statt und endete 2:1 für Deutschland. Das war gleichzeitig die letzte Niederlage Brasiliens gegen Deutschland. Seitdem feierte die Seleção drei Siege in drei Spielen, zuletzt im WM-Finale. Wird sich das am Mittwoch wiederholen?

Für mich ist das Freundschaftsspiel nicht auf einen Sieg oder eine Niederlage zu reduzieren. Für uns ist es vor allem interessant, gegen die Gastgeber der WM 2006 zu spielen. Deutschland ist trotz der momentanen Umbruchphase eine der großen Fußballnationen der Welt. Als Gastgeber, mit den eigenen Fans in den Stadien und mit der Fußballtradition, zählt Deutschland für mich unbedingt zu den engeren Titelkandidaten.

Was erwarten Sie vom Gegner Deutschland am Mittwoch?

Klinsmann wird das Spiel mit Sicherheit dazu nutzen wollen, den Neuaufbau der deutschen Nationalmannschaft mit Erfolgen einzuleiten. Und was könnte einem Trainer in einer solchen Situation gelegener kommen als ein Spiel gegen den fünffachen Weltmeister. Und ich kann versprechen, dass wir unsere besten derzeit verfügbaren Spieler mitbringen. Wegen eines Problems vor allem mit dem AC Mailand fehlen uns fünf Stammspieler. Aber keine Sorge, Brasilien hat noch genügend Spieler, um diese Lücken gleichwertig zu schließen. Das Spiel wird interessanter als das Finale von 2002.

Was ist genau das Problem, dass Sie Dida, Kaka und Cafu von Mailand und Lucio und Ze Roberto vom FC Bayern nicht berufen haben?

Unser Hauptproblem sind nicht die Spieler, sondern die Vereine. Und es ist auch nicht in erster Linie der FC Bayern München, sondern der AC Mailand. In der letzten Zeit gab es immer wieder Ärger mit Mailand, wenn es um die Freistellung ging. Wir sind nicht irgendein Verband, wir sind der fünffache Weltmeister. Das muss man in Europa verstehen. Wir haben immer wieder mit Verständnis die Belange der Vereine berücksichtigt. Aber irgendwann musste der Verband eine klare Position beziehen. Das haben wir nach dem Spiel gegen Haiti getan.

…ein von der Fifa festgelegter Spieltag.

Es gab an dem Wochenende kein Spiel in den Meisterschaften. Mailand hat die übrigen Nationalspieler für andere Länder freigestellt, nur die Brasilianer nicht. Auch Bayern München hat seine brasilianischen Profis nicht freigestellt. Es geht nicht gegen die Spieler. Lucio und Ze Roberto, genauso wie Dida, Kaka und Cafu werden bei den kommenden Spielen wieder berücksichtigt werden. Die Nichtberufung ist allein eine Manifestation unserer Unzufriedenheit mit der Situation mit den Vereinen, vor allem mit Mailand.

Wie sehen die Chancen für Ailton aus? Er war in der abgelaufenen Saison der Torschützenkönig und Spieler des Jahres in Deutschland?

Ailton ist ohne Zweifel ein großer Fußballer, der in der Vergangenheit viele Tore in der Bundesliga geschossen hat. Aber im Moment haben wir mehr als genug exzellente Spieler auf der Position. Wir haben Ronaldo, Ronaldinho, dann hat Adriano von Inter Mailand bei der Amerikameisterschaft einen sehr guten Eindruck hinterlassen. Und mit Robinho vom FC Santos und mit Nilmar (gerade von Olympique Lyon verpflichtet – d.Red.) haben wir zwei Sturmtalente von Anfang 20 Jahren im Kader. Wir haben einfach zu viele gute erfahrene und genauso viele junge Nachwuchsstürmer. Die Seleção braucht im Moment keinen Stürmer von mehr als 30 Jahren.

Und wie sehen die Chancen von Leverkusens França aus?

Sein Fall ist anders gelagert. Er ist noch jünger, er hat hier in Brasilien einen sehr guten Fußball gespielt und schon das Trikot der Seleção angezogen. Und er hat seit einigen Monaten bei Bayer Leverkusen wieder zu seiner alten Stärke zurückgefunden. Seine Schnelligkeit, seine Spielübersicht, seine Technik und seine Tore machen ihn in jedem Fall zu einem potenziellen Kandidaten für uns.

In Berlin bei Hertha BSC spielen auch zwei Brasilianer, Gilberto und Marcelinho. Wie sehen deren Aussichten aus?

Gilberto wurde schon zweimal berufen. Vor einem Jahr beim Konföderationen-Cup, wo er auch gespielt hat, und im Juli zur Südamerikameisterschaft, wo er leider verletzungsbedingt absagen musste. Aber er gehört auf jedem Fall zum Kandidatenkreis unseres Teams.

Und Marcelinho?

Wenn sich eine Gelegenheit ergibt und wir einen offensiven Mittelfeldspieler benötigen, kann es sein, dass wir auf Marcelinho zurückgreifen.

Viele brasilianische Fußballer spielen in Europa. Ist das gut für sie?

Es hat eine negative Seite. Es gibt kaum Fußballidole, die im eigenen Land bleiben. Damit lässt das Interesse am Fußball in Brasilien nach. Die leeren Stadien zeigen dies. Unter dieser Perspektive verliert Brasilien. Andererseits muss man sehen, dass die Spieler in Europa nur gewinnen können. Nicht nur finanziell ist es interessanter in Deutschland, Spanien oder Italien zu spielen. Auch aus sportlichen Gesichtspunkten sind die europäischen Ligen interessant. Und ganz allgemein können die Spieler vom professionellen Umfeld der europäischen Klubs profitieren. Der brasilianische Fußball ist noch sehr von paternalistischen Strukturen durchzogen. In Europa ist die Beziehung zwischen Verein und Fußballer wesentlich professioneller.

Das Gespräch führte Frank Kohl in Rio de Janeiro.

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