zum Hauptinhalt
Blick aus der Leere. Auf der Bank des FC Bayern wirkt Timo Heinze (ganz rechts) wie ein Verlorener.

© IMAGO

Ex-Bayern-Spieler Timo Heinze: Timos Traum

Sie spielten gemeinsam bei Bayern, doch als Thomas Müller WM-Torschützenkönig wird, hört Timo Heinze schon auf. Warum es einige schaffen im Fußball und andere nicht.

Es gibt diese eine Szene. Eine, von der kleine Kinder träumen und, ja, auch Erwachsene. Das große Stadion, Flutlicht, volles Haus. Auf dem Feld: Die besten Fußballspieler Deutschlands. Den Ball abfangen, in der eigenen Hälfte. Und nach vorne sprinten, in den freien Raum, den Ball vor sich hertreiben. Haken schlagen, ein, zwei Gegner stehen lassen, schon dicht am anderen Strafraum. „Hier ist Heinze“, sagt Kommentator Bela Rethy, „ein 22 Jahre alter Außenverteidiger.“ Es ist der Satz, den wir alle mal hören wollten, über uns.

Die Menge in der Münchner Arena raunt, Timo Heinze könnte jetzt schießen, gleichzeitig sieht er, wie Miroslav Klose seinen Weg kreuzt. Eine blitzschnelle Entscheidung. Heinze spielt den Ball geradeaus in die Lücke. Doch Klose läuft nach rechts, ein einfaches Missverständnis. Der Ball trudelt ins Leere.

Und dann dieses Foto, entstanden nur ein paar Monate später. Die Ersatzbank. Junge Menschen mit tiefen Brauen. Auswechselspieler sehen selten glücklich aus. Timo Heinze, ganz rechts – leerer Blick, Zähne auf der Unterlippe – sieht aus wie einer, der sich fragt: Was mache ich hier? Er sieht aus wie ein Verlorener.

Der Fußball ist ein rasendes Business, das ist ein Klischee, aber über Timo Heinze ist es wahrhaft hereingebrochen. Er hat den Traum gelebt. Er war Jugendnationalspieler, Kapitän der Bayern-Reserve mit Anfang 20, auf dem Sprung nach oben. Vielleicht nach ganz oben. Und dann spuckte ihn die große Maschine wieder aus. Sein Spurt bei Oliver Kahns Abschiedsspiel blieb der einzige Moment auf der ganz großen Bühne. Heinze hat es nicht geschafft. In einem Sport, der nur in Gewinner und Verlierer einteilt, hat er verloren.

Darüber hat er ein Buch geschrieben, „Nachspielzeit: Eine unvollendete Fußballkarriere“, erschienen Ende vergangenen Jahres. Eine Selbsttherapie. Eine Abschiedshilfe. „Das Buch war ein Glücksfall“, sagt Heinze. „Wenn ich das nicht alles aufgeschrieben hätte, wäre ich sicher noch nicht so weit.“ Nicht so weit mit der Trauerarbeit. Mit dem Entzug. Denn der Fußball ist wie eine Droge für die, die sich ihm verschrieben haben. Nur wer sich ihm ganz und gar hingibt, wer alles andere vernachlässigt, der kann es überhaupt zu etwas bringen. Davon wieder loszukommen ist irrsinnig schwer, manche schaffen es nie, man muss sich nur all die traurigen Exprofis anschauen, die Tag für Tag in den Sportsendungen herumsitzen. Timo Heinze musste noch viel früher als die meisten loslassen, was es nicht einfacher macht. „Es tut inzwischen nicht mehr weh“, sagt Heinze, „ich habe abgeschlossen.“

Fußball ist ein einfaches Spiel, sagen die, die keine Ahnung haben. Es ist ja gerade die Einfachheit, die den Sport so schwer beherrschbar macht. Der Mensch ist nicht einfach. „Ich war schon immer ein Kopfmensch“, sagt Heinze, und was eine nützliche Eigenschaft sein kann, wenn es gut läuft, verkehrt sich in der Krise schnell ins Gegenteil: „Um ehrlich zu sein, ich war immer ein Spieler, der das Vertrauen brauchte, um dann gute Leistungen zu bringen“, schreibt Heinze. „Wenn ich mich in meiner Situation unwohl fühlte und die Anerkennung des Trainers vermisste, fiel meine Leistung rapide ab. Einem Thomas Müller zum Beispiel wäre das niemals passiert.“

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Thomas Müller auf dem Platz ein anderer wird.

Müller. Er hat das Vorwort zu Heinzes Buch geschrieben, natürlich kein Zufall. Er hat mit Heinze bei Bayerns zweiter Mannschaft gekickt, noch 2009 stehen sie zusammen auf dem Feld. Ein Jahr später beendet Heinze frustriert seine Karriere, und Müller wird der jüngste WM-Torschützenkönig überhaupt.

Heinze redet nur gut über Müller, sie sind Kumpels von früher, er bewundert ihn für seine Art, die er „schizophren“ nennt. Damit meint er: dass Müller, der intelligente, beredte Kerl, auf dem Platz ein anderer wird, wie auf Knopfdruck. Die Last der Gedanken wegwischt, die vergebenen Chancen, die Erwartung der Zuschauer. Das ist Müllers größte Gabe. Er hat es geschafft, obwohl er viel zu dünn ist, eigentlich, und viel zu hölzern. Doch Müller ist ein Gewinner, er öffnet Türen nicht, er tritt sie ein.

Auch Heinze ist lange ein Gewinner im Sinne des Systems, er spricht ein bisschen so wie Müller, hat das gleiche breite Grinsen. Mit zwölf Jahren wird er von den Bayern-Scouts entdeckt, er durchläuft alle Jugendteams, absolviert zwei Dutzend Länderspiele bis zur A-Jugend. Dann, das Abitur gerade gepackt: der erste Knick. Leistenbruch, es gibt Komplikationen, eine Not-OP, ein Jahr Pause. Heinze kämpft sich zurück, spielt bald für die Bayern-Reserve und wird von Trainer Hermann Gerland schließlich sogar zum Kapitän gemacht. Es scheint nur noch ein ganz kleiner Schritt zu sein. Der Traum ist fast Wirklichkeit. Und dann geht alles binnen weniger Wochen dahin. Warum?

Es gibt keine Antworten, nur Faktoren. Zum einen ist da die Erinnerung an die Verletzung, die erste Begegnung mit dem möglichen Scheitern. Zum anderen wird Heinze vom Coach auf die Bank gesetzt, plötzlich, ohne große Begründung. Das ist nicht gut, aber das passiert. Gerland ist alte Schule, ein grimmiger Schweiger, aber ein absoluter Fachmann. Heinze sagt: „Die Entscheidung war hart, aber sie hat mich extrem aus der Bahn geworfen. Ich konnte das nicht mehr ausblenden.“

Das Scheitern ist jetzt immer präsent, der Kopf ist Timo Heinzes größter Feind. Warum er, warum schon wieder solch ein Rückschlag? Wozu ist das gut, was hat das Schicksal mit ihm vor? Fragen über Fragen, die ihn lähmen. Selbst wenn er mal wieder spielen darf: „Was geht im Kopf des Trainers jetzt vor? Wird er mich gleich auswechseln? Sitze ich dann in nächster Zeit wieder nur auf der Bank? Und wie soll ich dann einen guten Verein finden?“ Unnütze Fragen, weil es keine Antworten gibt. Heinze hat den Glauben an sich selbst verloren.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Thomas Heinze sein Glück in der Flucht auf Bali fand.

Es geht, fast zwangsläufig, bergab. Die Bayern verlängern seinen Vertrag nicht. Heinze fällt nun doch noch durchs Sieb, wie so viele vor ihm. Am letzten Trainingstag läuft er mit einer Videokamera noch einmal die Gänge an der Säbener Straße ab. Als müsse er sich selbst überzeugen, dass dies alles Wirklichkeit war. Dass er, der Bayern-Fan, elf Jahre bei seinem Lieblingsklub hatte spielen dürfen.

Es folgt noch ein enttäuschendes Jahr beim Münchner Vorortklub Unterhaching, dann beendet Timo Heinze seine Karriere, mit 24. Als Thomas Müller sein erstes Champions-League-Finale spielt, ist Heinze gerade auf Bali, seinen Rucksack hat er dabei. Eine Flucht vor den Gedanken, eine Flucht ins Selbst. Endlich eine Reise ohne Trainingsplan. Eines Tages spielt er wieder Fußball, am Strand, mit Engländern, Holländern, Spaniern. Backpacker-Weltauswahl. Sie spielen wieder wie früher, wie die Kinder, nur aus Spaß, nur für sich. Für Heinze ein wunderbarer Moment. Er sagt: „Das Spiel an sich ist wunderschön.“

Heinzes neues, zweites Leben: Sportstudium in Köln, sechstes Semester. Vielleicht wird er danach Sportpsychologe, sagt er, „ich kann da sicher einiges weitergeben“. Timo Heinze sagt: „Ich bin mit meinem Leben sehr zufrieden.“ Vielleicht hat er am Ende doch gewonnen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false