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Training fürs nächste Interview. Auch Sezer Seymen fühlt sich als Star – doch nach 90 Minuten kann alles vorbei sein.

© Mike Wolff

Falkensee im Pokal: Das Spiel ihres Lebens

Die Amateure aus Falkensee/Finkenkrug spielen morgen im Pokal gegen den VfB Stuttgart. Ein Traumlos. Doch was passiert in einem Verein, der plötzlich im Flutlicht der Öffentlichkeit steht? Eine Innenansicht.

Das Training hat längst begonnen. Donnerstagabend in Falkensee. Doch Sezer Seymen muss noch ein Interview geben. Preußenspiegel. Wie so oft in den vergangenen Tagen buchstabiert er seinen Namen, rast er durch seine eigene Biographie. Seymen, Sezer. Türke. Geboren 1985 in Berlin, Spandau. Von allen, früher von den Lehrern, heute von seinem Trainer Frank Rohde, nur Cäsar genannt.

Die Frau vom Preußenspiegel macht hektisch ein paar Bilder. Bitte recht freundlich! Geht gerade nicht: „Das ist nicht so meine Stärke.“ Sein Gesicht, hohe Wangenknochen unter dunklen Augenbrauen, osmanisch stolze Züge, verweigert das Lächeln auf Knopfdruck, im Sucher der Kamera. Da kann er jetzt wenig machen, er ist schließlich kein Profi. Noch zwei Fragen, sagt die Preußenspiegelfrau, als Frank Rohde an den beiden vorbei läuft, erfrischend genervtes Trainergesicht: „Cäsar, was soll das? Du sollst Dich warmlaufen!“ Dann, murmelnd fast: „Das liest doch sowieso keiner, die Scheiße.“

Also reiht sich Seymen in den Dauerlauf der anderen ein. Rohde steht, bisschen Kaiser in Rom, 1990, allein auf dem Rasen und schaut einfach nur zu. Gesprochen wurde ohnehin schon genug.

Seit Monaten. In Falkensee, über Falkensee. Und einer wie Seymen hat gerade einfach eine Menge zu erzählen. Weil er, Autohändler sonst, Innenverteidiger der sechsten Liga, einen seiner nächsten Zweikämpfe gegen Cacau führen wird, WM-Dritter in Südafrika, oder gegen Vedad Ibisevic, Nationalspieler Bosniens. Ziemlich geile, ziemlich unfassbare Sache, oder? Er nickt, kurzes Gespräch lange vor Trainingsbeginn, die Stimme, klare West-Berliner Färbung, viel Spandau, wenig Türkei, leicht angeraut: „Das ist der Höhepunkt meiner Amateurlaufbahn. Das zu toppen, ist gar nicht möglich.“ Dann wandern die Gedanken noch einmal zurück zu jenem Tag, der diesen Satz erst möglich gemacht hat.

Am 1. Mai 2012, Frühsommernachmittag, bezwingt der SV Falkensee/Finkenkrug, graue Unterklasse, grüne Trikots, im Finale des Brandenburg-Pokals den Titelverteidiger aus Babelsberg. Dritte Liga, halbe Profis. Vor dem Anpfiff ein Ding der Unmöglichkeit. Am Ende eine Sensation. Der Pokal und seine eigenen Gesetze. Und es ist nicht zuletzt Sezer Seymen, der erfährt, wie viel Drama in dieser so abgelutschten Floskel stecken kann.

Die größten Sensationen im DFB-Pokal

In der 60. Minute trifft er zum 1:0. Acht Minuten später, ein Foul im Niemandsland, sieht er glatt Rot. Das Rudel tollt, und der Schiedsrichter schickt auch gleich noch einen weiteren Spieler in Grün vom Platz. Die Amateure sind nur noch zu Neunt. Babelsberg gleicht aus. Dann aber geht ein letzter Aufschrei durch das Stadion an der Leistikowstraße, 1700 Zuschauer am Spielfeldrand. Weil Falkensee, in Unterzahl, aus dem Nichts doch noch der Pokalsiegtreffer gelingt. Abpfiff. Die Feier rauschend.

Platzsturm, Bierdusche. Seymen badet in der Erinnerung: „Das war ein Gefühl, als wärst du Profi.“ In den Tagen danach werden er und die anderen vom Bürgermeister empfangen. Lokale Helden.

Die Auslosung zur ersten Hauptrunde des DFB-Pokals wird zum Volksfest. Die halbe Stadt unter einem Partyzelt. Nachdem Oliver Bierhoff das Wappen des VfB Stuttgart in die Kamera gehalten hat, grenzenloser Jubel, schaltet die ARD einen Splitscreen. Dort Danzig, Europameisterschaft. Hier Falkensee, sechste Liga. Zwei Fußballwelten, für Sekunden ganz nah.

Ein Duell mit dem VfB, Bundesliga-Establishment, ist aus der Amateurperspektive so groß, so abstrakt, dass es verrückt machen kann. 90 Minuten DFB-Pokal, Sportschau-Bilder, heißt auch: 90 Minuten Ruhm.

Zum Training kommen nun die Kamerateams. Guter Stoff, das David-gegen-Goliath-Ding. Jeder Spieler eine Geschichte. Wie Stürmer Alexander Knappe, der als einziger aus der Mannschaft schon vor der Hysterie wusste, wie es sich anfühlt, eine öffentliche Person zu sein. Plötzlich im Flutlicht der Scheinwerfer. 2010 trat er bei X-Factor auf, einer Castingshow des Spartensenders Vox. Gute Stimme, deutsche Texte. Knappe war schnell mitten drin in der Maschinerie der Popstar-Versprechen, noch schneller aber wieder außen vor. Weil er, das Angebot einer großen Plattenfirma im Ohr, einen Kreuzbandriss vortäuschte, um vorzeitig aus der Sendung ausscheiden zu können. Es folgte das groß inszenierte Geständnis, die Reue, das Aus. „Lügen-Kandidat“ taufte ihn die Bild. Nun aber ist Knappe, einst Jugendspieler bei Energie Cottbus, für den Boulevard, der ihn gerne als smarten Mädchenschwarm bezeichnet, natürlich das Gesicht des Außenseiters. Ein bisschen Tim Bendzko aus der Lausitz, im Team aber eher: Kasper.

"Ich weiß nicht, ob die Jungs damit umgehen können"

Ein geborener Entertainer, sagen die Mitspieler. Nicht immer ist das als Lob gemeint. Als die anderen vor dem Training in der Kabine sitzen, kommt er, schweißnass bereits, kurz rein, fragt: „Was ist das hier, eine Pseudo-Mannschaftsbesprechung?“ Niemand reagiert. Er tänzelt: „Soll ich mal den Trainer machen?“ Nein, soll er nicht. Später wird er von Frank Rohde, dem Trainer, der Knappe, den Sänger, nur Dee-Jay nennt, mit einer freundlichen Nackenschelle begrüßt: „Als Sänger bist Du eine Eins, als Fußballer ’ne Hundert.“ Scheppert gut. „Der Trainer“, sagt Seymen, „weiß schon, wie er uns fit hält“.

Rohde, 52 Jahre alt, Goldkettchen, schlohweißer Armeeschnitt, nagelt mögliche Popstarallüren ansatzlos auf den Boden der Tatsachen. Er ist nicht der Typ für Extravaganzen. Dafür hat er im Fußball zu viel erlebt. Rohde war jahrelang Profi, wurde mit dem BFC neun Mal DDR-Meister, spielte beim HSV und mit Hertha in der Zweiten Liga. Seinen wenigen Worten haftet deshalb auch etwas Sorgenvolles, fast Väterliches an: „Ich weiß nicht, ob die Jungs damit umgehen können, die haben doch im Fußball noch nichts Großes erlebt.“ Er überlegt kurz, schaut in Richtung seiner Spieler, zwei gegen sechs, nur eine Ballberührung: „Sie dürfen jetzt den Alltag nicht aus den Augen verlieren.“

Der Alltag, das ist Premnitz. An einem Samstag, zwei Wochen vor Stuttgart, geht’s raus Richtung Rathenow, durch Ribbeck im Havelland, Birnbaum und Störche. Erste Runde im Brandenburg-Pokal. Die Mannschaft reist in schwarzen VW-Transportern an. Seymen und Knappe sitzen im gleichen Wagen. Sie sprechen über den Gegner aus der siebten Liga, die plötzliche Favoritenrolle: „Der Trainer sagt immer: Für die ist das, als ob Bayern München kommt.“ Sie sind kleine Berühmtheiten. In der brandenburgischen Provinz. Das Stadion in Premnitz ist noch ein Relikt aus den Chemie-Zeiten. Als sie aus den Autos steigen, heult irgendwo hinter den Platten eine Sirene. „Geiler Willkommensgruß“, finden Knappe und die anderen: „Falkensee ist da, so gehört sich das.“ Butter, einer der Betreuer, heute Fahrer, rückt stellvertretend für den Trainer mal eben die Realität zurecht: „Bildet euch mal nichts ein, ihr Penner.“ Einer muss ja für Ordnung sorgen.

Die größten Sensationen im DFB-Pokal

Leicht ist das nicht. Frank Rohde aber hat sich damit abgefunden: „Das bekommst du doch aus den Spielern nicht raus, da wackeln die Köpfe.“ Schulterzucken, was soll's. Kurz vor Spielbeginn, an einem Baum lehnend, hat er etwas Zeit, um sich noch mal ein paar Gedanken zu machen über die Bedeutung der Partie gegen den VfB, die weit über die persönlichen Befindlichkeiten seiner Spieler hinausgeht. Während das öffentliche Interesse schon mit dem Abpfiff erlöschen wird, bleibt vor allem eines: das Geld. 109 000 Euro erhält Falkensee für das Erstrundenspiel. Garantiert. „Wir waren hier doch fast tot“, erinnert sich Rohde. Den Verein drückten Schulden, 30 000 Euro, vielleicht mehr, so genau möchte sich daran keiner mehr erinnern. Nun ist er mit einem einzigen Spiel saniert. „Fragen Sie doch mal unseren Vorsitzenden“, sagt Rohde, die eine Hand vor dem Hosenbund, die andere auf Kniehöhe. Klare Geste: „Der muss so einen Ständer gehabt haben, als gegen Babelsberg abgepfiffen wurde. Da wusste er doch: Jetzt sind wir erst mal gesund.“ Dann fragt Rohde: War's das? Und geht zur Mannschaft.

Sven Steller, der Mann mit dem Finanzständer, sitzt auf der Tribüne und sieht tatsächlich zufrieden aus: „Der Sieg gegen Babelsberg kann uns auf Jahre hinaus nach vorne bringen, aber nur, wenn wir nicht ausflippen.“ Als mahnendes Beispiel dient ihm der MSV Neuruppin. Der damalige Oberligist hatte 2005 in der ersten Runde des DFB-Pokals das Traumlos FC Bayern gezogen, das Berliner Olympiastadion gemietet und sich damit finanziell ruiniert. Es ist ein schmaler Grat zwischen Euphorie und Realitätsverlust. Deshalb sagt Steller nun noch einmal: „Wir werden nicht ausflippen!“

Die Pflicht in Premnitz bringt die Mannschaft dann auch souverän hinter sich. Lockeres 3:0. Selbst Rohde verharrt weitestgehend in einem Zustand, den man ihm fast als gute Laune auslegen könnte. Nur einmal reißt es ihn aus seinem Plastiksitz. Als Knappe zum 2:0 trifft, anschließend weltstarjubelnd abdreht. Entnervtes Rohde-Kopfschütteln: „Um Gottes Willen, jetzt brauche ich erst einmal eine Woche, um den wieder runter zu holen.“

Auf der Rückfahrt wird kaum gesprochen. Erst kurz vor Falkensee, im Schatten einer dieser Brandenburgischen Alleen, sagt Seymen, die Gedanken jetzt beim VfB: „Butter, wenn wir gegen Stuttgart gewinnen, nehme ich dich mit in die Disco. Und der ganze Abend geht auf mich.“ Butter schweigt, lenkt. Nun beugt sich Knappe, um Gottes Willen, irgendwie angestachelt, nach vorne: „Wenn wir gewinnen, fahren wir direkt zum Flughafen und ab nach Mallorca. Zwei Wochen All-Inclusive.“ Butter schweigt weiter, tritt dann, völlig sinnlos, hart in die Bremsen: „Der ist für euch.“ Die Köpfe wackeln.

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