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Zusammen ist man weniger allein. Philipp Boy, Eugen Spiridonov und Fabian Hambüchen (von links) freuen sich über ihre WM–Bronzemedaille im Mannschaftswettbewerb. Foto: dpa

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Sport: Fast Teammeister, fast Weltmeister Erst Teammeister, dann Weltmeister

Philipp Boy holt bei der Turn-WM in Rotterdam sensationell Silber im Mehrkampf – zuvor verhalf er dem deutschen Team zu Bronze Red Bull erlaubt seinen Fahrern Vettel und Webber auch weiterhin, den Schnellsten unter sich auszumachen

Davor warnt Andreas Hirsch immer. Ein Fehler sei ja so schnell passiert, sagt der Cheftrainer der deutschen Turner. Auch am letzten Gerät noch. Gerade am letzten Gerät. Und wenn es dann noch um eine Medaille geht, da lägen die Nerven eben blank. So geschah es also. Im Mehrkampffinale der Turn-Weltmeisterschaft in Rotterdam fasste Philipp Boy am Reck daneben. Er wackelte ein bisschen, das Publikum ächzte. Da habe er gedacht, „jetzt habe ich mir alles versaut“, erzählt Boy später. Hatte er aber nicht. Seine Übung war trotzdem noch gut genug für eine Sensation: Boy gewann die Silbermedaille im Mehrkampf.

Besser war nur der Titelverteidiger Kohei Uchimura aus Japan, der Boy bei der Siegerehrung langanhaltenden Applaus spendete. Mit einer spielerisch wirkenden Leichtigkeit absolvierte er eine Übung nach der anderen. Der Lohn: 92,331 Punkte. Der Cottbuser Boy erhielt 90,048 Zähler, Dritter wurde der Amerikaner Jonathan Horton (89,864). Boy war anschließend sogar zu müde, um ausgelassen zu jubeln.

Und Andreas Hirsch, der ewige Skeptiker, der Trainer, der seine Sportler immer so schnell wie möglich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück holt, erlaubte sich ein für seine Verhältnisse fast überschwängliches Lob. „Wenn das einer verdient hat, dann Boy“, sagte er. Denn dieser hatte bis zur alles entscheidenden Reckübung eine schier unmenschlich scheinende Energieleistung vollbracht. Erst am Donnerstagabend hatte er mit einem fast perfekten Sechskampf der deutschen Mannschaft zu Bronze im Teamfinale verholfen. Er sammelte 92,231 Punkte. Zwei Tage zuvor war er in der Qualifikation auf 90,156 Zähler gekommen. Das Mehrkampffinale war also sein dritter Sechskampf innerhalb von vier Tagen. Keiner der anderen Turner mutete sich das zu, auch Uchimura nicht.

Aber Boy wollte die Medaille so sehr. Im Mehrkampffinale habe er am Reck seine letzten Kräfte mobilisiert: „Ich wollte diese Übung durchturnen, und wenn ich mit dem Reck vom Podium runtergegangen wäre.“ Er ließ trotz des Fehlers nicht los. Er machte weiter. Flog in den Stand. Und holte Silber.

Das Ziel der deutschen Turner war eigentlich nur, sich in Rotterdam mit einem Finalplatz für die WM im kommenden Jahr in Tokio zu qualifizieren und so alle Chancen auf die Olympiatickets für die Mannschaft zu wahren. Das hatte die Riege des Deutschen Turner-Bundes mit Platz fünf in der Qualifikation locker geschafft. Eine Medaille im Finale schien diesmal nicht erreichbar, da mit Marcel Nguyen (München) der deutsche Mehrkampfmeister mit einem Schienenbeinbruch fehlte und Fabian Hambüchen (Wetzlar) wegen einer noch nicht ganz verheilten Fußverletzung nicht am Boden und am Sprung antreten konnte.

Aber die Zeiten, als alles auf wenigen Schultern lastete, gehen vorbei. Hambüchen ist vielleicht noch immer die größte Stütze des deutschen Teams, aber er ist sicher kein alles tragender Pfeiler mehr. In Rotterdam sammelten andere kräftig Punkte. Allen voran Philipp Boy, aber auch Matthias Fahrig , Eugen Spiridonow, Thomas Taranu und Sebastian Krimmer.

„Wir haben Spaß, wir schaukeln uns gegenseitig hoch und wenn das dabei raus kommt, ist es einfach geil“, jubelte Philipp Boy nach dem Gewinn von Team-Bronze. Jetzt hat er auch noch Mehrkampf-Silber – und am Sonntag im Reckfinale die Chance auf eine weitere Medaille. Dort trifft Boy auf Hambüchen. Und wieder werden die Nerven blank liegen.

Michael Schumacher kennt es aus eigener Erfahrung anders, sieht es anders und würde es als Teamchef wohl auch anders machen: Im Titelkampf beiden Fahrern eines Teams bis zum Ende freie Fahrt zu gewähren – für den siebenmaligen Weltmeister nicht nachvollziehbar: „Es kann nun mal nur einer gewinnen und nicht zwei.“ Das Team müsse sich schon auf eine Nummer eins festlegen.

Da kann Sebastian Vettel froh sein, dass sein Teamchef bei Red Bull es anders sieht. Christian Horner hat die Parole ausgegeben: „Solange beide Fahrer, Webber und Vettel, noch mathematische Titelchancen haben, dürfen sie frei fahren. Wir wollen den sportlich-fairen Kampf, der Bessere soll gewinnen.“ Eine Linie, die Dietrich Mateschitz, der Red-Bull-Unternehmenschef, unterstützt.

Es sind ja auch nur 14 Punkte, die den derzeit WM-Führenden Webber von Verfolger Vettel und auch vom Ferrari-Piloten Fernando Alonso trennen. Nach dem neuen Punktesystem, in dem es für den Sieg 25 Zähler gibt, ist das nicht mehr als ein Wimpernschlag. Auch das ist für Horner ein Grund, sich auf keinen Fall vorzeitig festzulegen: „Ein Problem bei einem im Rennen reicht – und alles dreht sich.“

Der Brite muss dabei auf die Vernunft seiner beiden Piloten bauen, sich nicht noch einmal gegenseitig von der Strecke zu befördern, wie das ja im Frühsommer in Istanbul schon einmal passierte. Denn wenn einer der drei anderen Noch-Titelanwärter – neben Alonso die McLaren-Piloten Lewis Hamilton und Jenson Button – der lachende Dritte wäre, hätte sich Horner in der öffentlichen Meinung lächerlich gemacht. Er glaubt sich da aber auf der sicheren Seite: Gerade nach den Vorfällen von Istanbul seien diese Dinge geklärt, so etwas würde nicht mehr vorkommen, und schließlich wüssten ja auch beide, dass sie sich angesichts der immer noch bestehenden fremden Konkurrenz auf keinen Fall einen Ausfall leisten dürften.

Dass ihnen als den einzigen beiden „Noch-Nie-Weltmeistern“ in dem Fünfer-Feld dabei am Ende die nötige Nervenstärke fehlen könnte, befürchtet Horner dabei zumindest öffentlich nicht. „Beide Fahrer haben schon unter Druck ihr Können bewiesen.“ Und schließlich sei es ja für alle eine neue Situation, dass fünf Piloten drei Rennen vor Saisonende noch um den Titel kämpfen, sagte Horner.

Horner vermeidet es derzeit, irgendetwas zu sagen, was als Bevorzugung des einen oder anderen ausgelegt werden könnte. Wobei er anscheinend vor allem den Australier vorsichtig behandeln muss: Webber zeigte zuletzt immer wieder Anzeichen von großer Anspannung, während Vettel seine bekannte Lockerheit wiedergefunden zu haben scheint. So ärgerte er sich auch nicht weiter darüber, dass ihm am ersten Trainingstag in Korea ein Reifenschaden das Programm durcheinander brachte und in der Zeitenliste plötzlich einRückstand von 1,3 Sekunden auf den tagesschnellsten Teamkollegen auftauchte. „Ich musste dadurch viel zu früh mit den weichen Reifen raus, danach wurde die Strecke viel besser, aber da waren dann die Reifen schon zu alt“, sagte Webber.

Tatsächlich war der 23-Jährige in den letzten Rennen immer wieder der Schnellere – angesichts seiner zur Schau getragenen Neutralität versucht Horner das aber klein zu reden: „In Japan trennten sie im Qualifying sieben Hundertstel, aber im Rennen waren sie gleich schnell. Ich gehe davon aus, dass es ein enger Kampf zwischen ihnen wird“, sagte Horner, „im Vorjahr gewann Mark in Brasilien und Sebastian in Abu Dhabi, deshalb erwarte ich von beiden den gleichen Speed.“ Und wer wird am Ende Weltmeister? „Ich habe keine Kristallkugel!“

Henrike Petersen[Rotterdam]

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