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Sport: Feuer auf der Radrennbahn

1909 in Berlin: Beim Bahnspektakel explodiert ein Motorrad, sechs Menschen sterben in den Flammen. Eine Rekonstruktion aus Anlass des Sechstagerennens

Berlin - Mit Schirmen und prachtvollen Hüten gegen die Sonne geschützt flanieren die Damen an verfallenen Gewächshäusern vorbei zur Potsdamer Straße. Sie sind mit ihren Männern, die Sonntagsanzüge und Zylinder tragen, an diesem Nachmittag des Jahres 1909 auf dem Weg zur Radrennbahn im Sportpark "Alter Botanischer Garten". An den Händen halten sie ihre herausgeputzten Kinder.

Dort, wo Jahre später der Kleistpark angelegt werden wird, ist am Vortag die provisorische Radrennbahn eingeweiht worden. Am 18. Juli 1909 riecht es noch nach dem frischen Teer, mit dem die Holzbohlen des Balkenbaus versiegelt wurden. Wilde Jagden, rasante Zeitfahren und Rennen mit Schrittmachern auf Motorrädern stehen auf dem Programm. Schon länger boomt der Radsport in der Stadt, 14 Freiluftbahnen gibt es im Berliner Raum. Erst fünf Monate ist es her, dass in einem improvisierten Wintervelodrom am Zoologischen Garten das erste Sechstagerennen Europas stattfand.

Die Ereignisse aus der Anfangszeit des Sechstagerennens sind heute fast vergessen. Zu schweren Stürzen kommt es im Gedränge der vielen Fahrer auf der Rennbahn aber manchmal noch - wie im November 2006 in Gent, als der Spanier Isaac Galvez ums Leben kam. Auch die Bahn im Velodrom an der Landsberger Allee, wo im Moment das 96. Berliner Sechstagerennen stattfindet, ist nur gute sieben Meter breit. Doch solch eine Katastrophe wie im Jahr 1909, über die "Berliner Tageblatt" und "Berliner Morgenpost" ausführlich berichteten und die heute in Archiven nachzulesen ist, kann nicht mehr passieren. Da sind sich die Veranstalter im Velodrom sicher.

Es war ein idyllischer Sonntag an der 330 Meter langen Bahn im damals noch unabhängigen Stadtkreis Schöneberg. Zwei Goldmark haben sich die Besucher den Eintritt kosten lassen. Es ist kurz vor fünf Uhr am Nachmittag. Gespannt warten die Tribünengäste auf den Start des wichtigsten Wettkampfes des Tages, das einstündige Steherrennen, bei dem Schrittmacher auf Motorrädern den Radfahrern voraus fahren. Stars der internationalen Radsportszene treten hier an, wie der Holländer John Stol, der Franzose Henri Contenet oder Fritz Ryser aus der Schweiz. Aber vor allem will jeder einen Blick auf Lokalmatador Arthur Stellbrink erhaschen. Denn der 24-Jährige aus Treptow ist im Vorjahr Europameister geworden.

Besonders dicht gedrängt stehen die Leute in der Nordkurve zur Potsdamer Straße, von wo aus sie die beste Sicht haben. Der Startschuss fällt, die Motorräder der Steher knattern vor den Radfahrern hinweg, wie wild geworden rasen die Gespanne über die ölige, geteerte Bahn. Immer wieder wechselt die Führung, knappe Überholmanöver lassen die Zuschauer für Momente verstummen. Doch plötzlich gellt ein Entsetzensschrei aus Tausenden Kehlen. Es gibt einen Ohren betäubenden Knall. Und eine Stichflamme schießt von der Nordtribüne aus meterhoch zum Himmel.

Gerade eben noch hatte Henri Contenet das Rennen angeführt, hinter ihm John Stol und Fritz Ryser, ein Stück weiter zurück Arthur Stellbrink. Nach etwa 20 Kilometern wollte Ryser seinen Kontrahenten Stol überholen. Als sie etwa auf gleicher Höhe waren, rutschte der Schrittmacher des Holländers aus - entweder weil an seiner Maschine ein Reifen platze oder weil er angerempelt wurde -, er kam ins Schleudern und stürzte gemeinsam mit dem Radfahrer. Im nächsten Moment raste das Tandem der beiden Ryser-Schrittmacher in die Unfallstelle und wurde in das Publikum geschleudert. Beim Aufprall an der Barriere explodierte der Motor.

"Auf der Kurvenplatzseite brennt lichterloh ein Motorwagen, Motorräder und Rennfahrer überstürzen sich, einzelne von ihnen fliegen wie abgeschossene Kanonenkugeln auf den Sandplatz des Innenraumes. Motorräder und Fahrräder sausen die Bahn herab, die Zuschauer springen bleich und aufgeregt von ihren Sitzen, ein Moment ratloser Bestürzung herrscht unter den Tausenden von Zuschauern", berichtet ein Augenzeuge dem "Berliner Tageblatt" später. In der Nordkurve breitet sich das Feuer rasant aus - die frisch geteerte Bahn liefert ausreichend Zunder. Unter dem brennenden Motorrad sind Zuschauer begraben. Getränkt in Benzin fangen ihre Kleider Feuer. Schreie sind zu hören. Brennende Menschen laufen umher.

Panik bricht aus. Einige Zuschauer drängen zur Unglücksstelle, andere flüchten ungestüm von ihren Plätzen. "Vom Sattelplatz aus sieht man eine beherzte Gruppe von Männern um den brennenden Motor hantieren, mehrere Menschen werden unter dem feuerspeienden Motor hervorgezogen", schreibt ein Zeuge. "Die erste Verunglückte ist eine Dame. Ihre schwarze, spitzenbesetzte Kleidung steht in hellen Flammen, eifrige Hände reißen ihr die brennenden Fetzen vom Leibe, bis sie in Hose und Hemdfetzen dasteht." Sechs Menschen sterben in den Flammen, 29 erleiden schwere Verbrennungen.

Noch am gleichen Tag üben Experten heftige Kritik an den mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen an der provisorisch errichteten und womöglich übereilt eröffneten Rennbahn. Angeblich gab es kein Sanitätszelt, keine Tragbahren und auch keinen Notarzt. Außerdem war kein Löschwasser-Hydrant in der Nähe, sodass die anwesenden Feuerwehrleute den Brand nicht sofort bekämpfen konnten. In den Zeitungen rätseln Polizeibeamte, Brandoffiziere und Ingenieure noch Tage später, wie es zu dem Unglück kommen konnte. Die Gutachter kommen später zu dem Schluss, dass die Bahn mit nur acht Metern Breite viel zu schmal gewesen sei, sodass Fahrer kaum Platz zum Überholen gehabt hätten. Zudem hätte das Publikum besser geschützt werden müssen, zum Beispiel durch "eine doppelte Barriere mit einem Zwischenraum von etwa anderthalb Metern", wie der langjährige Leiter des Sportparks Treptow, ein Herr Wilke, damals in einem Artikel schrieb. Rechtliche Folgen hatte das Unglück für die Betreiber aber nicht, denn am Ende waren sich die Experten einig, dass man mit einem derartigen Unfall - vor allem mit der Explosion des Motors auf der Zuschauertribüne - nicht hatte rechnen können. Schließlich hatte die Baupolizei die Abhaltung von Rennen gestattet.

Einige forderten damals das vollständige Verbot von Motorradrennen. Doch schon wenige Wochen später fanden auf der ausgebesserten Holzbahn wieder Radrennen mit Schrittmacher-Maschinen statt. Erst als der Rennbahn-Betreiber pleite ging, wurde sie im Oktober 1909 geschlossen. Knapp hundert Jahre später, im Jahr 1995, wurde auch der Betrieb der letzten Berliner Freiluftbahn am Sachsendamm eingestellt.

Steher-Rennen mit Motorrädern oder mit Schrittmachern auf kleineren Derny-Krafträdern gibt es bis heute. Auch beim 96. Berliner Sechstagerennen in diesem Jahr gehen wieder von Stehern geführte Rennfahrer an den Start. Doch anders als 1909, als die Gespanne noch mit bis zu 100 Kilometern pro Stunde an den Tribünen vorbei sausten, erreichen sie heute höchstens 75. "Inzwischen befindet sich die Rolle, die hinten am Motorrad befestigt ist und den Radfahrer auf Abstand hält, ein Stück weiter hinten", erklärt der Sprecher des Berliner Sechstagerennens Werner Ruttkus. "Dadurch ist der Windschatten kleiner. Das drosselt die Geschwindigkeit." Außerdem waren die Radbahnen früher flacher, wodurch die Fahrer leichter durch Fliehkräfte hinausgeschleudert werden konnten. "Die Konstrukteure haben ausgerechnet, welche Kräfte auf der Bahn wirken", sagt Ruttkus. Dass ein Motorrad in den Zuschauerraum geschleudert werden kann, hält er für unmöglich.

Gebaut wurde die Bahn im Velodrom vor 20 Jahren von Ralph Schürmann. Schon dessen Großvater hatte seit 1926 Radrennbahnen konstruiert. "Dem Großvater war die Sicherheit ein Anliegen", erzählt Ruttkus. Als aktiver Radrennfahrer entwickelte Clemens Schürmann in den Zwanzigerjahren den ersten Fahrradhelm der Welt. Den bastelte er sich aus einem Militärhelm und einer Strumpfhose seiner Frau.

Dagny Lüdemann

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