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Gascoigne

© Reuters/Ullstein

Fotostory: Paul Gascoigne: Der Trinker

Niemand war mehr "bad boy" als er. Einst mischte sich Gascoigne Milchschaum auf einen Baileys, so dass jeder glaubte, er trinke Cappuccino. So verworren sich sein Leben liest, so genial war er als Fußballer. Ein Bild erzählt seine Geschichte.

In der 78. Minute spielt Daren Anderton einen langen Pass in den schottischen Strafraum. Paul Gascoigne lupft den Ball aus vollem Lauf über den Kopf eines Abwehrspielers und donnert den Ball direkt aus der Luft ins Tor. Die bemitleidenswerten Schotten werden in der Show des englischen Mittelfeldspielers unfreiwillig zu Statisten degradiert, die jeder großartige Darsteller braucht, um der eigenen Genialität Ausdruck zu verleihen. Das Vorrundenspiel der Europameisterschaft 1996 ist entschieden. England besiegt Schottland mit 2:0 und der Torschütze wird gefeiert. Auf dem Boden liegend, die Arme ausgebreitet und mit weit aufgerissenem Mund lässt sich der Torschütze von Alan Shearer eine Erfrischung verabreichen. Würde man die bisherige Geschichte von Gascoigne mit Hilfe eines Bildes erzählen wollen, dieser Augenblick wäre prädestiniert.

Triumphe und Niederlagen gleichermaßen dienten einem der bekanntesten Fußballer der 90er Jahre stets als Anlass zu ausufernden Trinkgelagen. Damit einhergehende Verletzungen gesellschaftlicher Konventionen ziehen sich bis heute wie ein roter Faden durch sein Leben. So umstritten sein Lebenswandel ist, so unumstritten war sein immenses fußballerisches Talent. Doch die Probleme, die er in seiner gesamten Laufbahn im wahrsten Sinne des Wortes mit sich herumschleppen musste, deuteten sich schon in jungen Jahren an. Wegen seiner unprofessionellen Art hatte er schnell mal das eine oder andere Pfund zuviel auf den Rippen.

Zur Weltmeisterschaft 1990 in Italien hatte Gascoigne jedoch die nötige Fitness. Er war die treibende Kraft. Seine Dribblings waren eine Augenweide, sein Passspiel virtuos und seine begnadeten Momente, ob aus dem Spiel heraus oder bei Freistößen, die Sahnehäubchen im englischen Spiel. Doch wie bei einer ungünstigen Wetterprognose folgte auf das Hoch sogleich ein Tief. England schied im Halbfinale gegen die deutschen Elfmetermaschinen aus und der proletarische Rabauke konnte seine Tränen nicht verbergen. Millionen englischer „Sportsmen“ erlebten am heimischen Bildschirm, wie der harte Hund seine Gefühle offen auslebte. Die Sympathien seiner Landsleute waren ihm jetzt für immer sicher. Seine sportlichen Leistungen wurden in der Folge immer wechselhafter. In Italien konnte er bei Lazio Rom, auch wegen vieler kleiner Verletzungen, kaum überzeugen. Ob die schlechte physische Verfassung auf den immer unkontrollierter werdenden Alkoholkonsum zurückzuführen war, kann nur vermutet werden. Fakt ist, dass seine Trinkgewohnheiten schon Anfang der 90er Jahre bedrohliche Züge annahmen. „Auf einen dreifachen Baileys machte ich Schaum. So dachten alle, ich trinke Cappuccino“, schreibt er in seinem Buch „Being Gazza“.

Extravaganzen und Peinlichkeiten im Wochenrhythmus lieferten der Sensationspresse ständig neue Munition. Gascoigne buchte Solariumsbesuche für einen farbigen Mitspieler, schnürte sich Kunststoffbrüste um und verspeiste für eine Wette einen WC-Stein. Konnte man das alles noch als derben Humor abtun, waren andere Entgleisungen nicht mehr zu entschuldigen. In angetrunkenem Zustand verprügelte er seine Frau, die sich später von ihm scheiden ließ. Erst vor kurzem wurde der wenig VIP-Logenkompatible Ex-Fußballer zum dritten Mal in diesem Jahr in die Psychiatrie eingewiesen. Seine Schwester Anna flehte daraufhin seine Fans an, ihm keine Drinks mehr zu spendieren. Sie fürchtete, ihr Bruder würde sich sonst unter die Erde trinken.

Das Tor gegen Schottland war einer der letzten bedeutenden sportlichen Auftritte des notorisch stolpernden Helden. Im Eröffnungsspiel gegen die Schweiz wirkte er noch lustlos und müde. Die Kritiker hatten schon ihre Messer gewetzt. Doch Gascoigne blühte oft just in den Momenten auf, in denen Hohn und Spott wie dunkle Gewitterwolken über ihm aufzogen. Gegen Schottland gab er mit einem herrlichen Treffer die passende Antwort und führte England bis ins Halbfinale gegen Deutschland. Wäre er bei der flachen Hereingabe in der Verlängerung nicht am Ball vorbeigegrätscht, hätte seine Mannschaft das Finale erreicht, und wäre vermutlich Europameister geworden. Ob das am anhaltenden Absturz eines tollen Fußballers etwas geändert hätte, darf jedoch bezweifelt werden.

Gereon Detmer

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