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Frauen-WM: Steht es wirklich 0:1?

Nationalspielerin Bianca Schmidt durchlebt vor dem Fernseher noch einmal das frühe Aus der deutschen Fußballerlinnen bei der WM im eigenen Land.

Am Montag fuhr Bianca Schmidt der Schrecken in die Glieder. „Wieso sitzt du hier auf dem Sofa?“, dachte sie und sprang auf. „Du musst doch zum Training!“ Sekunden später fiel es ihr wieder ein: Es gab für sie in diesem Turnier kein Training mehr. Die deutschen Fußballerinnen waren ausgeschieden, im Viertelfinale gegen Japan.

Wenn Bianca Schmidt fünf Monate später von diesem einsamen Augenblick in ihrer Potsdamer Wohnung erzählt, muss sie lachen. „Total bescheuert“, sagt sie, „aber der Weg sollte eigentlich woanders enden.“ Mit einem großen Spektakel in Frankfurt sollte die Heim-WM aufhören, eine Woche später im Finale. Aber diesmal waren es die Japanerinnen, deren Sommer zum Märchen wurde. Die Deutschen mussten zusehen.

Die zähen 120 Minuten, in denen die Titelträume ihr Ende fanden, hat sich die Mannschaft nie wieder angesehen.

Anfang Dezember ist Bianca Schmidt bereit. In der Geschäftsstelle von Turbine Potsdam, engen Räumlichkeiten im Erdgeschoss eines grauen Betonklotzes, den Mitarbeiter „Baracke“ nennen, ist nichts mehr übrig vom Glanz des Sommers, den Fernsehbildern und der perfekt organisierten Maschinerie namens Frauen-WM. Am Ende eines Jahres, das alles verändern sollte, ist doch irgendwie alles beim Alten.

Bianca Schmidt, 21 Jahre, humpelt auf Krücken in den verdunkelten Raum, Muskelfaserriss. Sie zieht die bunte Snowboardjacke aus und lässt sich in einen Stuhl plumpsen, versucht lässig zu wirken mit ihren ausgefransten Jeans und dem Kapuzenpulli, das blonde Haar wie immer streng zurückgebunden. Doch die Anspannung ist spürbar.

Einmal durchpusten, Anpfiff.

Schon nach vier Minuten war klar: Es läuft nicht nach Plan. Melanie Behringer schlug den ersten Eckball herein, Kim Kulig hob ab zum Kopfball, der Ball segelte knapp übers Tor. „Das hätte es schon sein können“, sagt Schmidt. Stattdessen sank Kim Kulig zu Boden und hielt sich das rechte Knie. Sie war unglücklich aufgekommen: Kreuzbandriss. Eine der wichtigsten, eine der wenigen, auf die Trainerin Silvia Neid sich früh festgelegt hatte, humpelte weinend vom Feld.

Bianca Schmidt saß zu diesem Zeitpunkt noch auf der Ersatzbank, „da ging die Aufregung los“, sagt sie. Neid könnte jetzt Linda Bresonik nach vorne nehmen und mich reinbringen, ging ihr durch den Kopf. Bresonik neben Simone Laudehr auf der Doppelsechs, Schmidt auf die rechte Verteidigerposition, ihre Stammposition. Diese Entscheidung der Trainerin aufgrund der frühen Verletzung war für viele überraschend. Schmidt grinst. „Für uns nicht“, sagt sie. „Wir haben früher oft so gespielt. Nur eben nicht in der WM-Vorbereitung.“

Doch da fand Frauenfußball noch weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Neulinge sahen nur die Zahlen: sieben EM-Titel, zwei WM-Titel in Folge. Müsste es da nicht ein Kinderspiel sein, zu Hause wieder Weltmeister zu werden?

„Bianca, mach dich fertig!“, rief ihr Silvia Neid zu. Vor lauter Aufregung steckte Bianca Schmidt die Schienbeinschoner falsch herum in die Socken. Noch an der Seitenlinie sieht man sie hektisch gestikulieren. „Ich brauche noch Tape“, sagen ihre Lippen auf dem Fernsehbild. Sonst rutschen die Schienbeinschoner.

Schmidt muss lachen, wenn sie sich so sieht. In der 8. Minute lief sie endlich aufs Feld, bejubelt von 26 000 Zuschauern. „Daran kann man sich nicht gewöhnen“, sagt Schmidt, die im Potsdamer Alltag vor 2000 Leuten spielt. „Ich habe versucht, das zu genießen, denn wir wussten alle: Es wird nie wieder so sein.“

Die Zuschauerzahlen der Bundesliga stiegen zwar in der Hinrunde um 39 Prozent. Doch das war vor den kalten Wintermonaten und die Zahlen bleiben bescheiden. „Vielleicht wäre es anders, wenn wir gewonnen hätten“, sagt Schmidt leise.

Chance über Chance ließ die Mannschaft verstreichen. Celia Okoyino da Mbabi verstolperte die Bälle im Strafraum, Kerstin Garefrekes vergab Kopfbälle, die sie sonst im Schlaf verwandelt. Bianca Schmidt schlägt am Bildschirm die Hände vors Gesicht, gestikuliert und ruft: „Durchlassen!“ Je länger das Spiel dauerte, desto hektischer wurde die Mannschaft. „Wenn die anderen jetzt ein Tor machen, durch irgendeinen blöden Zufall ...“, geht es Schmidt ab Minute 80 durch den Kopf.

Die Möglichkeit einer Niederlage hatten die Deutschen nie durchgespielt. „Es wurde mal erwähnt“, sagt Bianca Schmidt, „weil man es erwähnen muss. Doch da war nie ein Ausrufezeichen.“ Der gesamte Spielplan war ausgerichtet auf den Erfolg der Deutschen. Samstagabend zur besten Sendezeit schauten sich 17,01 Millionen das deutsche Ausscheiden an, ein Marktanteil von 59,2 Prozent. „Dass es solche Ausmaße annimmt, hätte niemand gedacht“, sagt Schmidt. In Wolfsburg, im ersten K.o.-Spiel, potenzierte sich der Rummel. Schmidt erinnert sich, wie sie Stunden vor dem Anpfiff plötzlich das Hotel, in dem sie gerade saß, von oben im Fernsehen sah. „Da kreiste ein Hubschrauber“, sagt sie und scheint es immer noch nicht zu glauben. „Das war eine völlig andere Welt.“

Eine Welt, die die meisten der Frauen nicht kannten. „Man darf sich nicht so einen Druck machen“, sagt sie, „aber man macht es trotzdem.“

Nach 90 Minuten steht es 0:0, Verlängerung. Das Bild jedoch blieb unverändert. Inka Grings bekam im Strafraum den Ball vor die Füße, stand frei vorm Tor, schoss drüber. „Was macht sie da eigentlich?“, ruft Schmidt. „Den schlenzt sie normalerweise ganz cool rein.“

Doch cool war schon lange nichts mehr. Die Verkrampfung stieg im Gleichschritt mit der Zahl der Minuten. Diese eine Gelegenheit, aus Frauenfußball etwas anderes zu machen, war die ganze Zeit mit auf dem Spielfeld. „Ich wollte den Zuschauern zurufen: Es wäre schön, wenn ihr öfter kommt“, erzählt Schmidt.

Und dann war der Ball plötzlich im Tor. Im falschen Tor. Wie aus dem Nichts, in der 108. Minute. Homare Sawa, die eine Woche später als Spielerin des Turniers gefeiert werden wird, spielte den einen klugen Pass auf Karina Maruyama, die Saskia Bartusiak überlief und den Ball an Nadine Angerer vorbei in die lange Ecke schob. „Ich habe zur Schiedsrichterin geguckt und gedacht: Wieso wird jetzt nicht abgepfiffen?“, erzählt Schmidt. „ Es muss doch Abseits gewesen sein!“

Es blieben zwölf kurze Minuten, in denen den Deutschen nicht mehr einfiel, als den Ball aus jeder Position hoch in den Strafraum zu spielen. Doch die Bilder zeigen nur schimpfende und zaudernde Gesichter. Steht es wirklich 0:1?

Als der letzte Pfiff ertönte und die Ahnung zur Gewissheit wurde, wünschte sich Bianca Schmidt eine Schaufel. Um sich einzubuddeln an Ort und Stelle. „Wir haben versagt“, sagt sie bitter. „Und so viele Menschen enttäuscht.“

Abrupt bricht das Fernsehbild ab und es dauert ein paar Minuten, bis Bianca Schmidt wieder im Jetzt ist. Dann findet sie ihr Lächeln wieder. Trotz allem denkt sie gern zurück. „Es kann Einbildung sein, aber die Akzeptanz ist gestiegen“, sagt sie. Frauenfußball-Fans gibt es vielleicht nicht viel mehr als vorher. „Aber wir werden weniger belächelt.“

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