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Es ist schwer nachvollziehbar, weshalb Südtirol sich in einem strengen Lockdown befindet, während in Cortina d’Ampezzo so getan wird, als wäre der Ort weit weg vom Schuss

© imago images/GEPA pictures

Fremde Freiheiten: Ein Rundgang durch den Ort der Ski-WM

In Cortina haben Restaurants und Bars geöffnet. Doch von Normalität kann keine Rede sein. Die Pandemie hat den gesellschaftlichen Alltag grundlegend verändert.

Der erste Weg in Cortina d’Ampezzo führte, nein: nicht zum Friseur, auch wenn es langsam höchst an der Zeit wäre. Er führte direkt in eine Bar. Die Sehnsucht nach einem guten alten Espresso in einem kleinen italienischen Café war dann doch größer als die Notwendigkeit eines neuen Haarschnitts. Wer weiß schon, wie lange die Restaurants, Pizzerien, Cafés und Geschäfte hier noch offen haben dürfen.

15 Autominuten entfernt herrscht mittlerweile nämlich wieder Alarmstufe Rot. Es ist zwar schwer nachvollziehbar, weshalb Südtirol sich seit Montag in einem strengen Lockdown befindet, während 14 Kilometer südlich der Provinzgrenze in Cortina d’Ampezzo so getan wird, als wäre der Ort der alpinen Ski-Weltmeisterschaft weit weg vom Schuss. Aber wenn man während dieser Pandemie etwas gelernt hat, dann, dass es nicht immer für alles eine plausible Erklärung gibt.

Für Österreicher, die seit dem vergangenen Spätherbst kaum noch unter Leute gekommen sind, wirkt Cortina wie ein Ort aus einer anderen Zeit. Wann hat man das letzte Mal so viele Menschen auf einem Haufen gesehen? Wann offene Restaurants und unversperrte Ladengeschäfte erlebt? Wann kam das letzte Mal so etwas wie ein Gefühl von Normalität auf? Aber welche Normalität eigentlich?

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Als Ramona Siebenhofer das erste Mal durch Cortina spazierte und ihr in dem 5.600-Einwohner-Städtchen so vielen Leuten über den Weg liefen, war die ÖSV-Läuferin fast mehr entsetzt als begeistert. „Das ist ein kleiner Kulturschock“, gab die Steirerin zu. Ihre Teamkollegin Franziska Gritsch fand es zwar „schön, dass endlich wieder was los ist. Aber es ist zugleich auch fast ein wenig befremdlich“.

Nicht viel anders ergeht es einem beim ersten Abstecher in eine Café-Bar seit Anfang November. Nach unzähligen Cappuccini, die man im Stammlokal daheim im Freien und aus einem Pappbecher trinken musste, ist es natürlich eine echte Wohltat, wieder einmal einen Kaffee in einer Tasse serviert zu bekommen und dabei nicht frieren zu müssen.

Das Unbehagen bleibt bestehen

Trotzdem beschleicht einen unverzüglich ein seltsames Gefühl. Man ruft sich spätestens beim zweiten Schluck reflexartig noch einmal all die Corona-Regeln in Erinnerung, die der Bevölkerung in den vergangenen Monaten eingetrichtert wurden – und blickt dabei argwöhnisch auf das gesellige Treiben in der Bar. Ist der Nachbartisch mit den zwei älteren Damen wirklich nur einen Babyelefanten entfernt? Warum hat die Kellnerin nur so einen Fetzen Stoff vor ihrem Gesicht und trägt keine FFP2-Maske?

Und wieso hustet der Typ da drüben nicht in die Armbeuge, wie es der Gesundheitsminister vorgezeigt hat? Der wird doch hoffentlich nicht ...

Eigentlich wollte man den ersten echten Kaffee seit Monaten ja in vollen Zügen genießen. Doch leider ist das Unbehagen doch größer als das Geschmackserlebnis. Und man merkt in diesem ungewohnten Moment der frisch gewonnenen Freiheit erst so richtig, was das Coronavirus und die vielen Lockdowns mit uns angestellt haben. Die Kellnerin scheint irgendwie mitbekommen zu haben, dass sich der fremde Gast aus Österreich nicht ganz wohl in seiner Haut fühlt und unruhig auf seinem Stuhl hin und her wetzt.

[Dieser Artikel erschien zuerst auf kurier.at.]

Sie schenkt ein Glas Wein auf Haus aus, weil heute die Ski-Weltmeisterschaft startet und weil sie froh ist, dass sich in Cortina endlich wieder etwas bewegt. „Wir hatten seit Weihnachten praktisch keine Gäste“, sagt sie.

Zum Wein reicht sie, wie in Italien üblich, eine kleine Schüssel mit Chips und Erdnüssen. Früher hätte man wahrscheinlich völlig unbedacht und ungeniert hingelangt und den Mund nicht voll genug kriegen können. Jetzt lässt man die Finger davon. Auch wenn der Gusto noch so groß sein mag. Sicher ist sicher.

Christoph Geiler

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