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Nur noch 208 Kilometer bis nach Pjöngjang. Der Friedensmarathon führte erstmals in die Entmilitarisierte Zone und machte erst an der Grenze zu Nordkorea kehrt. An eine Überquerung der heftig bewachten Grenze war allerdings nicht zu denken.

©  Felix Lill

Friedensmarathon in Südkorea: Auf dem Weg zur eigenen Grenze

Südkoreas Friedensmarathon führt erstmals zum verfeindeten Nachbarn im Norden und weckt bei einigen den Wunsch nach Wiedervereinigung. Ein Laufbericht.

Mit hastigen Bewegungen schüttelt Eung Soon Kim seine Beine aus, als ihn von hinten zwei Hände packen. Reflexartig tut Kim dasselbe mit seinem Vordermann, ein Ritual der Szene. Die letzte Minute, bevor es losgeht, knetet sich das Starterfeld gegenseitig die Schultern. Eine Massenmassage, um sich bei all der Anspannung zu lockern. Auch Eung Soon Kim ist nervös, wie viele der Wartenden. Nicht wegen der 42,195 Kilometer. Der 54-Jährige hat mehr als zehn Marathons hinter sich. Unruhig ist Kim, weil er noch nie so nah an der Grenze zum Norden war, wie er es heute sein wird.

Als der Startschuss fällt, drückt der Hobbyathlet auf einen Knopf seiner Digitaluhr, rückt den Brustgurt zurecht, der seinen Puls zählt, joggt vorsichtig los. „Ich bin mir nicht sicher, wie mir die Sonne bekommt. Später soll sie noch richtig knallen“, sagt er mit Blick aufs Handgelenk. Als gewissenhafter Läufer trägt er eine dicke Schicht Sonnencreme, Sonnenbrille, eine leichte Mütze. Beinahe wie ein vermummter Demonstrant wirkt er. Einige der Läufer, fast alle Südkoreaner, sehen ähnlich aus. Man will sich vor den heißen Temperaturen schützen. Und vielleicht auch vor Misstrauen in der Grenzregion.

Der Friedensmarathon führt von Paju, einer Stadt im Norden Südkoreas, direkt vor die Grenze zum verfeindeten Nordkorea. Auch wenn es hier niemand zugibt, will wohl nicht jeder dort erkannt werden. Und doch wollen so viele Läufer dabei sein. Gut 10 000 haben sich angemeldet, für verschiedene Distanzen zwischen sechs Kilometern und dem vollen Marathon. „Ich wollte schon immer an diese Grenze“, sagt Eung Soon Kim, der allmählich in Tritt kommt. Am liebsten würde er mal in den Norden reisen und sehen, wie die Landsleute dort leben. Aber das ist unmöglich, wegen seines südkoreanischen Passes. Der heutige Lauf ist das höchste der Gefühle.

Auf einer Schnellstraße ist die Innenspur gesperrt, zwischen Leitplanke und rot-weißen Plastikhütchen läuft das Marathonvolk. Links und rechts fließt der geregelte Verkehr. Kurz vorm sechsten Kilometer trottet ein Esel über die Straße, der eine Kutsche und deren Besitzer über den Asphalt zieht. Schon früh leise keuchend ruft ein amerikanischer Läufer: „Sind wir an der Grenze?“ Nordkorea sei doch agrarisch geprägt, Südkorea der Industriestaat. Der Esel müsste ein Kompass sein. „Auch bei uns gibt’s Bauern“, ruft ein Koreaner in genervtem Ton und gebrochenem Englisch nach hinten. Einen Moment später widerlegen vorbeirauschende Kias und Hyundais die Vermutung, die Grenze gar schon passiert zu haben.

Jenseits der Schnellstraße liegen Wald und Gebirge. Die Strecke führt geradeaus, Zuschauer gibt es keine. Die Einzigen, die anfeuern, sind Freiwillige, die in Abständen von fünf Kilometern nasse Schwämme und Wasser verteilen. „Jubelnde Menschen brauche ich heute nicht“, sagt Eun Pa Kim, die den Halbmarathon läuft, bei Kilometer 13. „Ich will an die innerkoreanische Grenze. Ist das nicht Motivation genug?“

Seit 14 Jahren wird der Friedensmarathon ausgetragen. Bei der ersten Auflage waren es 1000 Starter, über die Jahre hat sich die Teilnehmerzahl verzehnfacht. Die Botschaft des Laufs ist unter diesen Südkoreanern so deutlich wie beliebt: „Wir sind ein Volk und wollen uns nah sein“, erklärt Soon Min Hong von der veranstaltenden Tageszeitung Munhwa Ilbo. „Dieser Lauf ist Zeichen unseres Wunsches nach einer friedlichen Wiedervereinigung.“

Zum ersten Mal führt die Route direkt bis zur Grenze

In der Gegend, durch die die Marathon-Route führt, leben heute sehr viele Flüchtlinge aus Nordkorea. Landesweit hoffen 72 000 Südkoreaner auf ein Wiedersehen mit Familienmitgliedern aus dem Norden.

Noch aus einem weiteren Grund ist die Route bedeutend, sagt Hong: „Die Schnellstraße ist die Strecke, über die Chung Ju-Yung 1998 in den Norden fuhr.“ Vor 15 Jahren machte Chung, damals Chef des südkoreanischen Autobauers Hyundai, große Schlagzeilen, als er mit 500 Rindern als Geschenk in den Norden reiste, um Kooperationsgespräche zu führen. Es war die Zeit, als sich Südkoreas Regierung mit ihrer „Sonnenscheinpolitik“ um Annäherung bemühte. Aber die zaghaften Schritte haben sich spätestens Anfang dieses Jahres nach einem Atomprogramm, Raketentests und Kriegsdrohungen vom Norden bis auf Weiteres erledigt.

Seit nun 60 Jahren stehen Norden und Süden im Waffenstillstand, nach wie vor aber auch im Kriegszustand zueinander. Als der kommunistisch angeführte Norden den Süden ab 1950 erobern wollte, brach ein drei Jahre währender Krieg aus, in dem mehr als zwei Millionen Menschen starben. Es blieben tausende Kriegsgefangene, Entführte und eine tiefe gegenseitige Abneigung. In den vergangenen Jahrzehnten wurde Südkorea zu einer reichen Industrienation, der Norden hingegen ist durch Isolation verarmt.

Eine Zone, die trotz aller Kriegsrhetorik Bestand hat, ist die „DMZ“, die Entmilitarisierte Zone zwischen beiden Ländern. Nach einem schier endlos langen Lauf durch die pralle Sonne, über die Schnellstraße mit kleinen Steigungen, führt die Route in diese berühmte Grenzregion. Der Waffenstillstandsvertrag von 1953 schreibt vor, dass in diesem nicht frei zugänglichen Bereich jeder Waffengebrauch verboten ist. Aber das Unkraut, das durch den Asphalt wuchert, verrät auch, dass hier außer Militärfahrzeugen kaum Verkehr besteht.

„An eine Überquerung ist im Moment nicht zu denken“, sagt Eun Soon Kim und klopft seine Beine ab. 31 Kilometer sind geschafft. Durch die brennende Mittagshitze joggt Kim noch zwei Kilometer geradeaus, am Horizont prangt ein hohes Tor. Aus der Nähe offenbart sich, wohin die Straße hinter der Absperrung in Nordkorea führen würde: Pjöngjang 208 Kilometer, Kaesong 21 Kilometer. Die Route hat längst etwas Gespenstisches angenommen. Das im Westen fast gleichermaßen unbekannte wie verachtete Nordkorea ist so nah wie nie, Soldaten zieren den Weg.

Eine Abbiegung noch, weitere zwei Kilometer, die Straße ist holpriger, die Soldaten sperren das Gebüsch hinter ihnen ab, weil dahinter der Norden beginnt. Die Leitplanken sind in einem warnenden Schwarz-Gelb angestrichen. Am Ende, nach langer Durststrecke ohne Getränke ragt hinterm Wendepunkt ein Schild: innerkoreanischer Transitcheckpoint. „Das Gefühl, an dieser Stelle zu wenden, war Wahnsinn“, wird Eung Soon Kim hinter der Ziellinie sagen. „So nah war ich noch nie dran. Angst hatte ich gar nicht.“ Irgendwie wäre auch sie gerne nach Nordkorea weiter gelaufen, gibt Eun Pa Kim zu: „Die letzten zehn Kilometer haben wehgetan. Aber ich war voller Adrenalin. Das war alles nicht mehr so schlimm wie in den sonstigen Marathons.“

Zum ersten Mal haben es die Organisatoren geschafft, die Route bis direkt an die Grenze zu legen. Das habe viel Überzeugungsarbeiten mit den Militärs gekostet. „Es war aber unbedingt wichtig“, sagt Soon Min Hong.

Die erste von bisher zwei olympischen Goldmedaillen im Marathon gewannen die Koreaner 1936 in Berlin. Der heute in ganz Korea verehrte Son Kee Chung lief für die damalige Kolonialmacht Japan auf. Son, gebürtiger Nordkoreaner, betonte später, er habe die Medaille nicht für Japan gewonnen, sondern für alle Koreaner.

„Solche Veranstaltungen könnten uns zusammenbringen“, sagt Eung Soon Kim, als er seine Schuhe auszieht. In der südkoreanischen Laufszene ist der Friedensmarathon sehr bekannt, in Nordkorea weiß man vom Lauf höchstwahrscheinlich nichts. Von dort hat auch noch niemand teilgenommen. „Höchstens Flüchtlinge aus dem Norden könnte es geben“, sagt Eun Pa Kim, noch schwer atmend. „Aber als solcher würde sich niemand zu erkennen geben, nicht so nah an der Grenze.“ Sie scherzt, womöglich auch ein bisschen ernst: „Vielleicht waren deswegen so viele Läufer mit Sonnenbrille und Mütze unterwegs.“

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