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Sport: Für Pferde ein Gentleman

Marco Kutscher gilt als hochtalentierter Reiter mit Feingefühl – heute startet er bei den German Masters

Neulich in Verona ist Marco Kutscher beinahe schlecht geworden. Dass der 30 Jahre alte Springreiter dort beim Weltcup nur den zehnten Platz erreichte, war nicht der Grund. Sondern ein Gericht: Beim Abendessen stand Filet vom Pferd auf der Speisekarte. „Pferdefleisch zu essen, kommt für mich nicht in Frage“, sagt er. Schließlich sei er Tierfreund. Außerdem ist Kutscher noch Europameister der Springreiter, war Dritter bei Olympia, gilt als besonders gefühlvoller Reiter und wird von dem viermaligen Olympiasieger Ludger Beerbaum gefördert. Heute startet Marco Kutscher bei den German Masters in Stuttgart.

Die Wiesen dampfen an diesem sonnigen Herbstmorgen in Riesenbeck. Das ist ein westfälisches Dorf bei Osnabrück, es hat 6576 Einwohner, Backsteinhäuser und breite Alleen. Es gibt auch zwei Sehenswürdigkeiten: ein Landmaschinenmuseum und den Reitstall von Ludger Beerbaum. Hier ist der Europameister Marco Kutscher angestellt, als einer von 15 Mitarbeitern. Um halb acht morgens sitzt er mit den anderen am Frühstückstisch und bespricht den Tagesablauf. Er selbst ist als Bereiter für 15 Pferde zuständig. Was ein Bereiter tut? In der Hauptsache das, was sein Berufsname beschreibt: Er reitet, reitet und reitet. Drei bis sechs Stunden am Tag sitzt Kutscher im Sattel, und er ist der Ansicht, dass er seinen Traumberuf erwischt hat. „Jedes Pferd muss zweimal am Tag bewegt werden“, sagt er. Behutsam, schließlich sind es hochsensible Springpferde, die Namen tragen wie Montender, Controe, Cash, Numero Uno und Cappuccino. Sie gehören Beerbaum, dessen Mäzenen oder anderen privaten Besitzern und sind Millionen wert. Wer aber glaubt, dass ein Springreiter den ganzen Tag über Sprünge setzt, der liegt falsch. An Wochentagen zwischen den Turnieren, „da sehen meine Pferde keine Stange“, sagt Kutscher. Er arbeitet dann am Stil, am Verständnis zwischen Pferd und Reiter. Wie das genau geht, das findet er schwer zu beschreiben. Der Reiter arbeitet mit Gewichtsverlagerung, Zügel- und Schenkelimpulsen, den so genannten Hilfen, und selten auch mit der Stimme. Das Ziel ist die vollendete Harmonie, und die ergibt sich aus dem Zusammenspiel zweier Partner. In anderen Leistungssportarten spielt sich alles im Kopf ab, sagt man. „Beim Reiten sind es zwei Köpfe, die richtig ticken müssen“, sagt Marco Kutscher, „denn ein Pferd ist kein Sportgerät wie ein Tennisschläger oder ein Fußball.“

In der Reithalle steht heute jemand, der für Marco Kutscher sehr wichtig ist: ein kleiner Mann mit Zigarillo, in Reithose und Reitstiefeln. Das ist Manfred „Manni“ Kötter, für viele Springreiter eine Trainerlegende. „Von ihm kann man viel lernen, weil er sich auch mal in den Sattel setzt und zeigt, wie’s geht“, sagt Kutscher. Lernfähigkeit ist die große Stärke von Marco Kutscher, der im deutschen Springsport der absolute Shootingstar ist. „Er hat ein überragendes Grundgefühl dafür, wie man Pferde harmonisch bewegt“, sagt Ludger Beerbaum. Marco Kutscher ist sein Meisterschüler. „Ich war im richtigen Moment am richtigen Ort“, sagt Marco Kutscher und meint jenen Augenblick im Jahr 1997, als er dem populären Springreiter zum ersten Mal begegnet ist. Kutschers Eltern kommen nämlich nicht aus der Pferdeszene. Das ist ziemlich untypisch, denn die Szene besteht in der Regel aus pferdeverrückten Familien mit dem nötigen Kleingeld. Im Jahr 2000 wurde der gelernte Pferdewirt von Beerbaum eingestellt, um junge Pferde zu reiten und bei kleinen und mittleren Turnieren zu präsentieren. Dabei entwickelte sich Montender unter Kutscher zu einem Weltklasse-Springpferd. Der Nachwuchsreiter wurde schon 2003 Deutscher Meister – vor seinem Chef. 2004 schaffte er den Sprung in die deutsche Olympia-Equipe. Erst im Oktober dieses Jahres erhielt er dafür seine Einzel-Bronzemedaille, nachdem der Ire Cian O’Connor wegen Dopings disqualifiziert wurde. Zudem gilt Kutschers Reitstil sogar bei Kritikern des Sports als besonders pferdefreundlich, grobe Impulse wendet er nicht an. Im Juli 2005 wurde Kutscher Mannschaftseuropameister und holte auf seinem Rappen Montender auch den Titel im Einzel. Beerbaum, der im Sommer kein eigenes konkurrenzfähiges Pferd hatte, hat nach eigener Auskunft auch keinen Moment daran gedacht, sich selbst auf Montender zu setzen – was durchaus das Recht des Chefs gewesen wäre. Das sagt fast alles.

Der Nachmittag ist sonnig, Marco Kutscher reitet draußen. „Manchmal kann man die Gedanken schweifen lassen“, sagt er. Dann stellt er sich vor, wie es wäre, mit seinen Pferden über die Wiesen zu galoppieren. „Aber das geht ja nicht“, sagt er. Zu gefährlich. Und Gift für den laufenden Turnierbetrieb: Fast jedes Wochenende fährt er zu Wettbewerben, absolviert viele Prüfungen, Stechen, Siegerehrungen. Eine Woche Urlaub hat Marco Kutscher in diesem Jahr gehabt. Das scheint wenig – andererseits ist es kaum vorstellbar, dass einer wie er Urlaub von Pferden braucht.

Jürgen Roos[Riesenbeck]

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