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Sport: Fürs Leben laufen

Seit dem Bombenanschlag von Bali ist Ingrid Remkes Körper entstellt – der Berlin-Marathon ist ihre Therapie

Berlin. Noch immer gleicht Ingrid Remkes Rücken einer Mondlandschaft. Große Narben und dunkelrote Hautpartien durchziehen ihn wie Krater einen fremden Planeten. Und der Berlinerin ist deshalb auch klar: Spätestens wenn sie am Sonntag im Startbereich des 30. Berlin-Marathons ihre Trainingsjacke auszieht, werden die Blicke der anderen Starter auf ihre schmalen Schultern fallen. Zu frisch sind ihre Verbrennungen seit jenem Terror-Anschlag, der ihr Leben veränderte. Ein Drittel ihres Körpers ist seither verbrannt. Wie kleine Hügel ragen transplantierte Hautplatten aus ihrem Rücken. Es sind die letzten Spuren eines Anschlags, der die Welt erschütterte: das Bombenattentat auf Bali, bei dem im vergangenen Jahr islamistische Extremisten eine Diskothek in die Luft jagten und den Tod von 180 Menschen verschuldeten.

Die Folgen dieses grauenhaften Anschlags, sagt Ingrid Remke, könne sie nur mit ihrer eigenen Therapie bekämpfen: dem Laufen. Remke sagt sogar: „Der Berlin-Marathon hat mein Leben gerettet.“ So stört es die 35-Jährige auch nicht, für kurze Zeit wegen ihrer Verletzungen unter den 35 000 Läufern durch ihr Aussehen im Mittelpunkt zu stehen. Denn im Herbst 2002, vor einem Jahr, hatte die Berlinerin noch mit dem Tod gerungen.

Und nun steht sie wieder an der Strecke, an der, auf indirekte Weise jedenfalls, alles begonnen hatte. „Im vergangenen Jahr lief ich auch in Berlin“, sagt Ingrid Remke. Es war ihr dritter Berlin-Marathon, und sie war hoch motiviert. Kurz nach dem Rennen flog sie dann nach Bali. Sie wollte sich auf der indonesischen Insel auch von den Strapazen des Rennens erholen. Dann, genau eine Woche nach dem Marathon, stand sie in einer lauen Sommernacht in der Diskothek „Sari-Club“ auf der Flaniermeile Legian-Straße in der Stadt Kuta. Bis ein riesiger Feuerball durch die Bambusstäbe der Diskothek brauste. „Ich dachte zuerst, es sei ein Feuerwerk“, sagt die 35-Jährige. Doch noch bevor sie begriffen hatte, was wirklich geschehen war, detonierte die zweite Bombe der Terroristen. Keine 20 Meter entfernt von ihr. Der größte Terroranschlag seit dem 11. September 2001 hatte gerade stattgefunden – und Ingrid Remke war mitten im Inferno. Menschen liefen blutüberströmt über die Straße. Eine der Verletzten war die Berlinerin Remke. Während ihre drei Freundinnen im Feuerball starben, war die 35-Jährige nach draußen getorkelt und von einem Fremden auf einem klapprigen Motorrad aufgegriffen worden. Doch selbst nachdem sie vor dem Feuer hatte fliehen können, war ihr Leben noch längst nicht gerettet. Die Verletzungen waren zu stark. Die Bombe zerfetzte ihre Trommelfelle, zertrümmerte ihr Schlüsselbein und verbrannte ihren Oberkörper. Und die Krankenhäuser in Bali waren auf solche Verletzungen nicht eingerichtet.

Sie kam dann, wie die meisten deutschen Patienten, nach Australien. Dort wurde die Behandlung fortgesetzt. Und in Australien erfuhr sie, weshalb sie überhaupt noch am Leben war. Sie erfuhr, dass sie auch wegen des Marathons lebt, wegen des Trainings, das sie für die 42,195 Kilometer absolvierte. Ein Arzt trat an ihr Bett und sagte: „Ohne ihre körperliche Konstitution hätten wir nichts für sie tun können.“ Der niedrige Ruhepuls und die Tatsache, dass ihr Blut viel Sauerstoff aufnehmen konnte, hatten ihr Überleben gesichert. Wäre sie nicht so gut trainiert und ihr Körper anfälliger gewesen, dann hätte sie die Belastungen und die Folgen der Verbrennungen nicht überstanden. Und genau aus diesem Grund sagte sie heute fast ehrfürchtig: „Der Berlin-Marathon hat mein Leben gerettet.“ Aber dieses Leben geht weiter. Und dieses Leben mit seinen ganzen Folgen muss sie in den Griff bekommen. Das geht nur durchs Laufen, sagt sie. Beim Laufen kann sie die Bilder von damals, die furchtbaren Erinnerungen abschütteln. Deshalb wird sie am Sonntag die Gedanken an die Blicke der anderen schnell vergessen, da ist sie sich sicher.

Die Strecke führt an ihrer Wohnung vorbei. Am Abend wird sie dort überm Sofa ihre vierte und wohl wichtigste Teilnehmermedaille des Berlin-Marathons aufhängen. Eine Woche später wird Ingrid Remke wieder nach Bali fliegen.

Christoph Bertling

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