zum Hauptinhalt
Russlands Präsident Wladimir Putin tritt zu.

© AFP/Yuri Kadobnov

Fußball als politisches Instrument: "Die WM überdeckt vieles, das nicht funktioniert"

Stefan Melle, Geschäftsführer des Vereins Deutsch-Russischer Austausch, über die Situation in Russland, das zur WM gestiegene Rentenalter im Land und was Putin über Sport denkt.

Von Johannes Nedo

Herr Melle, die russische Nationalmannschaft bestreitet an diesem Sonntag ihr Achtelfinale gegen Spanien – und hat dies durchaus überzeugend erreicht. Läuft also auch für den Präsidenten Wladimir Putin alles perfekt?

Ich denke schon. Zwei Siege gegen Saudi-Arabien und Ägypten waren im Vorfeld natürlich nicht unmöglich, aber so gut ist es um den russischen Fußball derzeit ja auch nicht bestellt, dass alle Fans mit solch klaren Erfolgen gerechnet hätten. Für Putin läuft es so, wie er es erwartet hat. Die WM ist ein großes, prunkvolles Ereignis, das dementsprechend wahrgenommen wird. Und es fällt auch auf ihn zurück.

Was läuft denn hinter der glitzernden WM-Fassade derzeit in Russland ab?

Es ist jetzt natürlich ein besonderer Monat für das Land. Es wird auf Helligkeit geschaltet, aber es gibt auch Dinge, die parallel laufen und nicht so erfreulich sind. So wurde von der Weltmeisterschaft überlagert, dass die Regierung am Tag des Eröffnungsspiels beschlossen hat, das Renteneintrittsalter zu erhöhen – was wirklich viele Menschen in der relativ alten russischen Gesellschaft betrifft. Außerdem hat die Regierung an diesem Tag die Mehrwertsteuer erhöht. Und sie verfolgt weiter viele Menschen aus politischen Gründen. So wurde diese Woche Jurij Dmitriew, ein bekannter Historiker zu den Stalinschen Repressionen, wieder verhaftet, der erst im Januar nach langem Ringen der internationalen Zivilgesellschaft freigelassen worden war. Auch der ukrainische Filmregisseur Oleg Sentsow sitzt weiter im Lager – und befindet sich schon fast 50 Tage im Hungerstreik.

Die WM ist die bisher teuerste aller Zeiten. Die Kosten dafür sollen mindestens zehn Milliarden Euro betragen. Wie geht es den Menschen in Russland?

Es gibt große Unterschiede zwischen den Städten und der Provinz. Russland ist kein Armutsland, obwohl die Armut seit 2014 wieder gestiegen ist. Aber letztlich ist das Problem eher: Es gibt kaum eine Entwicklung der Wirtschaft hin zur Modernität. Selbst in Kernbereichen wie Erdgas oder Stahl hängen die Russen hinterher. Noch weiter hinten dran sind sie bei Zukunftstechnologien. Da kriegt es Putin nicht hin, das zu verbessern. Obwohl er es ständig verspricht. Die Grundstimmung ist daher nah dran an einer Resignation und einem negativen Selbstbild.

Gibt es denn einen kritischen Teil der Bevölkerung, der all das auch wahrnimmt?

Ungefähr 15 bis 20 Prozent der Gesellschaft kann man einem liberalen Milieu zurechnen. Die tauschen sich auch sehr offen aus, besonders über Facebook. Die übrigen Medien sind allerdings sehr stark staatlich kontrolliert. Vor allem das Fernsehen.

Warum ist Putin so scharf auf Großereignisse wie Olympische Spiele oder die Fußball-WM?

Das hat viele Gründe. Tatsächlich ist Sport ihm sehr nah, er hat viel Sport betrieben – Judo und Eishockey. Außerdem denkt er, dass sich Russland über Sport als Weltmacht zeigen kann. Das ist auch noch ein sowjetisches Modell. Sie hatten bei Olympia immer mit die meisten Medaillen und das soll nun so weitergehen. Immer mal wieder ein Großereignis auszurichten, zeigt dem Volk auch: Wir sind immer da. Mit diesem Patriotismus überdeckt man eben auch viele Sachen, die im Alltag nicht so funktionieren.

Hätte es etwas gebracht, wenn Länder wie Deutschland oder England die WM boykottiert hätten – wegen des Bürgerkriegs im Donbass oder der Attacke auf den Doppelagenten Skripal in Großbritannien?

Natürlich hätte das ein Zeichen gesetzt. Die Frage ist, wie es in Russland angekommen wäre. Es ist Putin und seiner Riege ja auch gelungen, die eigentlich sehr begrenzten Sanktionen gegen Russland nach der Krim-Annexion so darzustellen, als sollten sie das Volk treffen. Aber was das Volk eigentlich betrifft, sind die Einfuhrbeschränken etwa für französischen und holländischen Käse - und die hat Putin selbst angeordnet. Die Russen in die Rolle der Beleidigten zu holen, beherrscht er ziemlich gut. Und so hätte ein Komplett-Boykott wohl negative Folgen gehabt. Umso mehr müssen Politiker, die zur Weltmeisterschaft fahren, deutlich die autoritären Bedingungen im Land ansprechen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Was können in diesem Punkt die Fans tun, die nach Russland gereist sind?

Wenn man sich nur auf die Fanmeilen begibt, wird man natürlich schwer hinter die Fassade schauen können. Dabei gab es ja selbst gegen die Fanmeilen Protest, etwa die in Moskau. Sie befindet sich auf dem Gelände der Lomonossow-Universität – und ein Teil der Studenten hat dagegen protestiert, dass die Fanmeile einfach dort errichtet wurde. Und es gibt auch Orte, an denen man sich über das andere Russland informieren kann: etwa im Haus der Vielfalt im Stadtzentrum von St. Petersburg. Solche Möglichkeiten sollten Fans nutzen.

Wird Putin nach der WM wieder sein anderes Gesicht zeigen?

Seine Gesichtszüge sind eigentlich immer ziemlich gleich: Einerseits lächelt er und tut parallel sehr harte Dinge. Was im Herbst geschehen wird, ist schwer vorauszusehen – und das beschäftigt die russische Gesellschaft sehr. Wird es dann deutlich schlimmer? Oder hat das Regime es gar nicht nötig, weil es ja weiterhin alles unter Kontrolle hat? Es ist wirklich beides möglich. Putin und seine Leute sind Taktiker, sie wollen ihr Regime weiter absichern. Denn sie haben auch so viel Dreck am Stecken – viele Freunde Putins sind Milliardäre geworden –, dass sie hinweggefegt werden könnten. Und das so etwas schnell passieren könnte, hat man auch kürzlich wieder gesehen: Etwa als Ende April der armenische Premierminister nach Demonstrationen zurücktreten musste. Putin will sich unbedingt an der Macht halten, und für noch stärkere innenpolitische Repressionen gibt es auch schon Gesetzesentwürfe. Ob die durchgesetzt werden, muss man nun abwarten.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false