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Schlecht-Guetta-Prognose. Dieser Mann erinnerte bei der Eröffnungsfeier an DJ Bobo. Und erwies sich als böses Omen.

© AFP/Fife

Fußball-EM 2016: Dieses Turnier ist so Neunziger!

Warum kommt einem diese EM eigentlich so fad vor? Weil es sie schon mal gab. Weil sie auferstehen lässt, wovon wir uns so gerne getrennt hatten.

Nostalgie ist die Sehnsucht nach einer Zeit, in der man auch schon nichts zu lachen hatte: Diesen Satz rufe ich mir stets so schnell wie möglich in Erinnerung, wenn ich mal wieder die neunziger Jahre zu vermissen meine. Jenes Jahrzehnt also, in der ich meine hedonistisch-hohle Jugend verbrachte, und je älter ich werde, das muss ich zugeben, desto öfter muss ich mich zur Ordnung rufen: Du willst all das doch nicht allen Ernstes zurück, Junge. Jetzt reiß’ dich gefälligst zusammen!

Magische Formeln

Du willst DJ Bobo nicht zurück, nicht die Schaumpartys in der Dorfdisko, auch den grimmigen Rausschmeißer mit dem Kampfnamen „Rindfleisch“ nicht, der seinen dummen Körper jeden Samstag zwischen dich und die Schaumparty schob und dich so lange abschätzig musterte, bis du dich so erbärmlich fühltest, dass du eh kein Mädchen mehr ansprechen konntest. Du willst die geckenhafte Yankees-Baseballmütze nicht zurück, Junge, die dir am Autoscooter der berüchtigte Schulschläger mit der unmissverständlichen Ankündigung „Ich zieh’ dir gleich die Mütze ab“ abzog, du willst die Ausflüge in den Heidepark Soltau nicht zurück, bei denen du dich aus der Achterbahn erbrachst. Du willst „Ran“ nicht zurück, das Wie-fühlen-Sie-sich-Massaker auf Sat1, nicht Reinhold Beckmanns rote Jeansjacke, in der er deinen geliebten Sport zum Event hinabmoderierte, du willst diesen ganzen Beckmann nicht zurück, den ganzen Fußball von damals nicht, der ausfranste zu einem UI- und Fuji-Cup-haften Flickenteppich. Und erst recht nicht die Hooligans, die sich in zugigen Betonschüsseln in ebenso zugigen Erstrunden die Schnauze polierten.

Ich beschwöre mich beinah wöchentlich mit diesen magischen Formeln, um meine Sehnsucht zu bannen nach einem Jahrzehnt, in dem ich ein Würstchen unter vielen war. Dabei hätte ich mir, nüchtern betrachtet, doch einigermaßen sicher sein können, dass all die Insassen dieser irisierenden Dekade nicht auferstehen würden. Doch dann kam der 10. Juni 2016, ein Freitag, an dem die Europameisterschaft in Frankreich eröffnet wurde. Und plötzlich war all das wieder da.

Wie desinteressiert muss man sein, um Menschen Fragen zu stellen, auf die man keine Antwort hören will?

Los ging es mit einer Choreografie, die mich doch sehr an die sonntäglichen Ausflüge in den Heidepark Soltau erinnerte, auch wenn sich wohl selbst Wumbo, das willenlose Maskottchen diesem Ringelpiez verweigert hätte, den sich das Organisationskomitee da ausgedacht hatte: Alles drehte sich und blinkte, und auf einem Turm aus Pappmaschee stand plötzlich der Wiedergänger DJ Bobos, ein Mann namens David Guetta, ein überfröhlicher Plattenaufleger, der eben jener Dorfdisko entsprungen zu sein schien, in der ich vor 20 Jahren zuckende Bewegungen auf der Tanzfläche vollführte. Und waren da nicht noch Schaumreste in seinen Haaren? Das ließ sich böse an, und es war ein Omen: Dieses Turnier, es wurde zur einzigen Reminiszenz an ein zu Recht längst vergangenes Jahrzehnt.

Auch „Rindfleisch“, der Türsteher, ist zurückgekehrt, in Gestalt von Tim Wiese, dem zur Größe eines Traktorreifens aufgepumpten Ex-Torwart. Er stellt sich nunmehr zwischen mich und den guten Geschmack, gibt den dumpf aus der Kulisse schnauzenden Statisten in der Ich-lass-es-noch-mal-krachen-Baby-Sendung des öffentlich-rechtlichen Best Agers Reinhold Beckmann. In seiner inzwischen in sein Wesen übergegangenen roten Jeansjacke sorgt er in der sogenannten „Sportschule“ für Fremdscham und Entsetzen beim Zuschauer: Wie tief muss man in der Midlife Crisis stecken, damit einem dermaßen egal ist, was andere von einem halten? Wie desinteressiert muss man an anderen Menschen sein, um ihnen Fragen zu stellen, auf die man keine Antworten hören will? Wie fest muss man an den Tod des Mediums Fernsehen glauben, um einen solchen Totentanz aufzuführen? Immerhin: Dieser Beckmann scheint die Neunziger noch ärger zu vermissen als wir alle zusammen an unseren schlechten Tagen.

Seit Tim Wiese nicht mehr Fußball spielt, konzentriert er sich vornehmlich auf seine Muskel- und mögliche Wrestling-Karriere.
Seit Tim Wiese nicht mehr Fußball spielt, konzentriert er sich vornehmlich auf seine Muskel- und mögliche Wrestling-Karriere.

© dpa/Stache

Es wird alles zurückkommen

Spätestens da ahnte ich: Es wird nun alles zurückkommen. Die Yankees-Kappen (auf den leeren Köpfen der Nationalspieler), der Zerfall eines einstmals schlanken, attraktiven Wettbewerbs in ein unübersichtliches, antidramatisches System der Sendezeitmaximierung (24 Mannschaften, von denen nach zweiwöchigem Ballgeschiebe gerade mal acht aussortiert sein werden), selbst die Hooligans tauchen aus den Untiefen ihrer muffigen Muckibuden wieder auf und reisen durch den Kontinent in die französischen Fußgängerzonen, um dort Stühle durch die Gegend zu werfen. Es ist schwer zu fassen, welche Kosten und Mühen diese Leute auf sich nehmen, um ganz Europa wissen zu lassen, wie saudämlich sie sind.

Auch diese Bilder kenne ich aus den neunziger Jahren und wollte sie geflissentlich vergessen. Ebenso wie DJ Bobo, Beckmann, „Rindfleisch“, Fuji- und UI-Cup. Ich war der irrigen Auffassung, wir wären weiter, zivilisatorisch wie ästhetisch, wir bekämen ein Turnier geboten, das wir nicht schon kennen. Das den Fußball in Szene setzt, als Sport, wie wir ihn lieben beziehungsweise gern lieben würden – und nicht seine Kollateralschäden, Eventisierung, Gewalt und Altmännertalk.

Es hätte einfach die reine Schönheit des Sports gefeiert werden können

Nun ist diese EM vielfach überschattet: von der meteorologischen und der politischen Großwetterlage, von Terrorangst, von Verbandsskandalen und einem insgesamt schwindenden Vertrauen in die Integrität des Fußballs, von einer vielleicht doch allzu großen Erwartungshaltung nach der rauschhaften WM in Brasilien. Von den nicht mehr einzuholenden Rekorden, die der Mondraketenwettbewerb Champions League hervorgebracht hat, jene schillernde Stiefschwester, neben der jede Europameisterschaft naturgemäß nur aussehen kann wie ein Mauerblümchen. Doch gerade weil der Athletismus zwangsläufig in eine Krise geraten muss, wenn er dazu verdammt ist, seine eigenen Statistiken immer wieder zu überbieten, hätte doch in diesen vier Wochen eines gefeiert werden müssen: die reine, unverfälschte Schönheit des Sports. Auf allen Kanälen, immerzu.

Man hätte darauf kommen können, dass das nicht funktioniert, wenn man die Spiele mit einer Neunziger-Jahre-Schaumparty beginnen lässt.

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