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Nationalstürmer Mario Gomez - heute ist er gelassener.

© dpa(Peter Kneffel

Fußball-EM 2016: Mario Gomez: "Es ist toll, planlos zu sein"

Lange hat der Fehlschuss bei der EM 2008 gegen Österreich an Mario Gomez genagt. Ein Interview über Versagensängste, Pfiffe und neue Lockerheit.

Herr Gomez, von Ihnen ist zu hören, dass Sie während der WM 2014 ein großer Fan der deutschen Mannschaft gewesen sind. Wie können wir uns das vorstellen?

Ich habe mir die Spiele angeschaut, gestaunt, teilweise habe ich auch mitgefiebert, wie gegen Algerien. Und dann saß ich wieder vor dem Fernseher und konnte nicht fassen, was ich sah: Das Spiel gegen Brasilien…

…das sagenhafte 7:1 im Halbfinale. Sie wären vermutlich gern dabei gewesen, waren aber gar nicht erst nominiert worden. Und Sie jubelten trotzdem?

Ich hatte ja ein Weilchen, um das zu verdauen. Sehen Sie, mit meinem Wechsel damals vom FC Bayern nach Florenz waren andere Wünsche und Vorstellungen verknüpft. Daraus ist leider nichts geworden. In der Saison vor der WM war ich sieben von neun Monaten verletzt. Mir war also klar, dass es für mich nicht reichen würde für Brasilien. Deswegen konnte ich mich schon eine Weile darauf vorbereiten. Also war es während des Turniers nicht mehr ganz so hart.

Das glauben wir Ihnen nicht.

Wenn man sieht, wie erfolgreich die Mannschaft spielt, wenn man die Stimmung mitbekommt, dann fühlt man auch Schmerz. Aber letztlich war es genau so, wie ich es gesagt habe. Viele Spiele haben begeistert, und ich saß da und habe mich für die Jungs gefreut.

Für den Philipp Lahm, für den Bastian Schweinsteiger, also speziell für die, die lange dabei sind und all die Jahre hören mussten, dass sie nie etwas holen würden, dass es nie für den letzten Schritt reicht. Dieses Gerede war völlig absurd. Die Spieler waren noch jung. Und jetzt nehmen Sie nur den Toni Kroos, er ist der einzige deutsche Spieler, der mit zwei verschiedenen Vereinen die Champions League gewonnen hat. Und dieser Generation soll der letzte Schritt gefehlt haben? Ich weiß nicht.

Auch Sie standen oft im Zentrum der Kritik.

Ja, und es reichte eine vergebene Großchance…

… im letzten Gruppenspiel der EM 2008 gegen Österreich.

Das war schwer zu verarbeiten für mich damals mit Anfang 20. Ich glaube sogar, dass mich dieses Missgeschick eine gute Zeit in der Nationalmannschaft gekostet hat.

Lange her und vorbei!

So denke ich heute. Damals hatte ich das Gefühl, dass die Diskussion vom fehlenden Schritt so ungerecht war wie die um einzelne Personen wie mich. Wissen Sie, wie schön es war, dass diese Jungs so eine WM wie in Brasilien gespielt haben? Deswegen war und bin ich Fan.

Jetzt sind Sie wieder dabei. Offenbar haben Sie in Ihrem Denken eine neue Distanz zu dieser Diskussion hergestellt. Wann hat es bei Ihnen klick gemacht?

Ich glaube, das ist keine Sache von Momenten, sondern von Alter und Erfahrungen. Gerade meine Erfahrungen in Florenz waren nicht die positivsten. Die negativen Erfahrungen rücken den Stellenwert dann wieder ins richtige Licht.

Welchen Stellenwert?

Den des Fußballs, also was der Fußball für einen persönlich bedeutet. Irgendwann war ich in der Lage, die Dinge besser einzuschätzen und damit auch wieder zu genießen. Ich war irgendwann in einer Situation, in der ich mir gesagt habe: Okay, die letzten beiden Jahre waren sportlich so schwer für mich, ich muss da gedanklich raus.

Sie wechselten vor einem Jahr zu Besiktas Istanbul und hielten den Fußball gedanklich und emotional auf Abstand. Verstehen wir Sie richtig?

Ja, das kommt dem nahe. Ich bin nach Istanbul gewechselt mit der Absicht, einen anderen Anlauf zu unternehmen, auch ganz klar mit dem Ziel, mich wieder in Form zu bringen und bei die EM 2016 zu spielen. Jetzt, wo es wieder läuft, wo ich wieder das Gefühl, die Power und das Vertrauen bekommen habe, kann ich den Fußball genießen. Ich genieße den Fußball wie noch nie in meiner Karriere. Gerade weil ich eben weiß, wie es ist, wenn man keinen Erfolg hat, wenn einen das Gefühl verlässt, das Vertrauen und die Power.

Und die Lockerheit…

Lockerheit kommt immer dann, wenn du erfolgreich bist. Wenn’s läuft, wenn deine Mannschaft gewinnt, wenn du eine gute Zeit hast, dann kannst du frei aufspielen. In dieser Saison konnte ich das, weil ich relativ früh gespürt habe, so im September, es geht wieder in die richtige Richtung. Ich spürte, ich komme wieder dahin, die Bälle kommen wieder zu mir. Also ich bin wieder da, wo der Ball hingeht.

Ein schönes Bild.

Ja. Und dann kommt die Power. Ich habe mehr Power, die ich davor lange nicht hatte. Das gibt einem dann das gute Gefühl.

Und mit den Bällen kam auch die Nationalelf wieder auf Sie zu.

Vor allem freut mich, dass ich mein mir selbst abgegebenes Versprechen gehalten habe. Im Juli vergangenen Jahres habe ich für mich das Ziel formuliert, jetzt hier bei der EM dabei zu sein und mit dieser Mannschaft Europameister zu werden. Und deswegen ist für mich die Saison noch nicht beendet. Ich sehe das Ganze und möchte die Spielzeit mit maximalem Erfolg abschließen. Das heißt: Europameister.

Es wird ein paar Mannschaften geben, die etwas dagegen haben.

Gerade Frankreich ist stark. Und Spanien. Oder nehmen Sie Belgien. Wenn man allein die Namen ihrer ersten Elf liest, dann sagt man: Wow. Oder Italien, die keiner auf der Rechnung hat – und dann werden sie wieder ewig dabei bleiben. Also, es gibt schon ein paar Mannschaften, die verdammt schwer zu schlagen sind. Und wie immer wird ein Außenseiter dabei sein. Aber ich habe auch das Gefühl, dass der Hunger bei uns extrem ausgeprägt ist.

Dabei sagten Sie vorige Woche im Trainingslager noch, Sie versuchten, ein bisschen planloser zu werden. Wie meinten Sie das?

Planlos zu sein, ist toll. Weil man mal nicht so überlegt, was kommt, positiv wie negativ. Man sagt das immer so daher, weil es schwierig ist, das jemanden zu erklären. Ich meine, dass kommt ja schnell so yogi-yoga-mäßig rüber. Aber es ist schon so, dass ich in diesem Jahr noch nicht einmal daran gedacht habe, was nächstes Jahr wird.

Ist Ihnen das passiert, oder haben Sie sich diese Haltung auferlegt?

Nein, nicht auferlegt. Selbst jetzt, wo es Wechselgerüchte gibt, weiß ich noch nicht, wie es weitergeht in der nächsten Saison. Ich will es im Moment auch wirklich nicht wissen, es interessiert mich nicht. Ist das zu verstehen?

Sie sind Torschützenkönig der Türkei. Sie verlassen sich auf Ihre Tore?

Mich interessiert jetzt nur die EM. Die Optionen werden dann eh da sein.

Kann es sein, dass Sie das Thema Nationalmannschaft nicht mehr so persönlich nehmen? Die Verletzungen, das Ausgepfiffenwerden, das Übergangenwerden?

Wie meinen Sie das?

Bei der EM 2012 haben Sie in der Vorrunde ein Tor gegen Portugal und zwei gegen Holland geschossen. Anschließend nahm der Bundestrainer Sie aus der Startelf. Sie wirkten vergnatzt.

Stimmt, man baut sich so ein Haus um sich selbst herum, man versucht sich selber zu schützen. Damals dachte ich: Ich muss doch spielen! Für mich ging es schon bei der EM 2008 schwierig los, da wurde ein Mega-Hype um mich gemacht. Die Erwartungen waren riesig. Dann dieser Fehlschuss. 2010, nach meinem ersten Jahr bei den Bayern, da hatte ich bei der WM gar kein Spiel und war trotzdem das große Thema. Und 2012, Sie sagen es, war ich nach einer Wahnsinns-Vorrunde trotzdem der Buhmann. Ich weiß noch, wie Bastian Schweinsteiger und ich nach dem Halbfinalaus gegen Italien niedergemacht wurden. Klar, ich weiß auch, dass das zu unserem Sport dazugehört. Und ich weiß auch, dass es immer davon abhängt, wie man performt. Aber manchmal sieht man sich selber ein bisschen ungerecht behandelt.

Ihre Erkenntnis daraus?

Ich weiß heute, 2016, besser als 2014, wie ich das einzuordnen habe. Ich habe überhaupt nicht mehr das Gefühl, dass mich alle Fans und alle Journalisten mögen müssen. Ich weiß nicht, warum das so ist. Vielleicht habe ich dieses Gefühl irgendwann mal auf der Straße liegen gelassen. Es ist weg. Das mag daran liegen, dass es für meine Karriere auf die Zielgerade geht.

Sie sehen das Ende kommen?

Was heißt Ende? Ich mache mir keinen Druck mehr. Es können noch zwei Jahre werden, es können noch fünf Jahre werden. Und wenn es in einem Jahr vorbei ist, dann ist es in einem Jahr vorbei. Ich habe mich davon gelöst.

Wie balancieren Sie diese Ansicht mit Ihrem Ehrgeiz aus?

Ich kann es nicht beschreiben. Ich habe nichts bewusst dafür getan. Ich habe nicht mein Leben auf den Kopf gestellt. Ich glaube, dass ist einfach ein Mix aus Reife, Erlebtem und Gelassenheit. All das in Kombination mit den letzten beiden Jahren, in denen ich weg vom Fenster war, wo keiner auf mich gewartet oder nach mir gerufen hat, all das hat mich wohl so werden lassen.

Sind Sie froh, dass Sie überhaupt noch zu dieser Erkenntnis gekommen sind, oder überwiegt vielleicht die Trauer darüber, dass es so lange gedauert hat?

Ich persönlich glaube nicht, dass ich früher dazu hätte finden können. Bei meinen ersten Turnieren war ich 22, 24, 26. Ich will damit sagen: Wenn du jung bist, willst du eine maximal-positive Karriere starten. Du hast alles vor dir. Du weißt nicht, was alles auf dich zukommt. Du ahnst nur, wenn du gut spielst, kannst du vielleicht zu Real Madrid, zu Barcelona oder Bayern München gehen. Wenn du in der deutschen Nationalmannschaft spielst, hast du Qualität. So, und dann stellst du Überlegungen an. Hast Träume.

Es gibt so viele Gedanken, die du hast, wenn du ein junger Spieler bist, der vor einer vielleicht großen Karriere steht. Diese Gedanken habe ich auch alle irgendwie gelebt. Ich bin zu Bayern München gegangen, war im Ausland, ich habe das jetzt so alles erfahren, was ich mir mit 20 vorgestellt habe. Und dann ist mir eine schwierige Zeit in Italien dazwischengekommen, wo ich auf Grund vieler Verletzungen nicht auf die Beine gekommen bin. All das hat mich dazu gebracht, so zu denken. Und jetzt ist es mir egal, was kommt.

Das sollen wir Ihnen abnehmen?

Ja, denn ich weiß, wenn ich gesund bin, wird’s gut. Deswegen mache ich mir vor dem Turnier keinen Stress, wo ich spiele, wann ich spiele und wie oft ich spiele. Die schlechte Phase hat mir doch gezeigt, was ist. Als ich jung war und es nicht lief, versuchte ich die negativen Dinge zu verdrängen, ich versuchte, alle wieder schnell von mir zu überzeugen, alles Gute zu zeigen, mich zu rechtfertigen.

Heute lasse ich auch negative Dinge zu, ich lasse sie ran an mich. Ich weiß, ich bin nicht der erste Fußballer, der in seiner Karriere mal eine schwierige Phase durchmacht. Gefühlt war ich das früher aber immer.

Warum kommt man bei Ihnen zu dem Eindruck, dass Sie mit einer geschmunzelten Leichtigkeit über diese Themen sprechen?

Weil das für mich kein Kampf mehr ist, kein Krampf. Wir dürfen aber jetzt die Dinge nicht verdrehen, weil ich gerade eine gute Saison gespielt habe und deswegen gelassener bin. Das heißt ja nicht, dass ich in diesem Turnier jetzt 15 Tore schießen werde. Ich bin weit davon entfernt.

Ich werde jede Entscheidung des Trainers akzeptieren. Und wenn es die ist, dass ich nur ein Spiel mache, dann mache ich nur eins. Wenn ich die Bilder von Rio sehe, dann gibt es nicht einen Spieler, der unhappy war. Da waren alle zufrieden, wie oft der Einzelne auch gespielt hat. Es hat gezeigt, dass der Fußball sich ein bisschen gewandelt hat. Es gibt nicht nur diese drei, vier Leitwölfe. Das sind alles gute Spieler und von denen sitzen dann eben auch mal sechs oder sieben auf der Bank. Das wird aber mittlerweile viel eher und besser akzeptiert. Deswegen habe ich das Gefühl: Egal wie, wir müssen nur Europameister werden.

Einen Spielplan der EM 2016 finden Sie hier als kostenlosen Download!

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