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Jakob Kuhn

© dpa

Fußball-EM: Anwürfe vorm Anstoß

In der Schweiz macht sich langsam EM-Skepsis breit. Joachim Löw aber hält die Schweizer Mannschaft für einen Mitfavoriten des Turniers

Die Schweizer Nationalmannschaft ist diesmal ihrem Sinn fürs Praktische gefolgt. Vor dem Länderspiel gegen Deutschland logiert sie nicht in ihrem Stammquartier auf dem Land, sie hat sich direkt am Spielort niedergelassen, in einem Hotel auf dem Basler Messegelände. Das Haus liegt strategisch günstig: Gleich nebenan, im Kongresszentrum, beschäftigt sich das „Welt Psychedelik Forum“ gerade mit dem Thema „Bewusstseinswandel als Herausforderung des 21. Jahrhunderts“. Vielleicht sollte Jakob Kuhn, der Trainer der Schweizer Fußballer, einmal vorbeischauen. Das Bewusstsein der Nation wandelt sich nämlich gerade ein wenig in die falsche Richtung.

Knapp zweieinhalb Monate sind es noch, bis die Schweizer in Basel das Eröffnungsspiel der Europameisterschaft bestreiten, doch nach einer Serie von drei Niederlagen gegen Nigeria, die USA und England versetzt die EM das Land derzeit eher in Schrecken als in allgemeine Vorfreude. Kubilay Türkyilmaz, Schweizer Rekordtorschütze, klagte am Tag vor dem Testspiel gegen die Deutschen, Kuhn habe es versäumt, der Mannschaft ein Gesicht zu geben: „Das letzte Jahr hat uns keinen Schritt weitergebracht.“

Die Vorhaltungen – zu viele Experimente, keine eingespielte Mannschaft – könnten den Deutschen seltsam vertraut vorkommen. Vor der WM im eigenen Land musste sich Bundestrainer Jürgen Klinsmann ähnlicher Anwürfe erwehren. Die Situation sei durchaus vergleichbar, sagt Tranquillo Barnetta, Schweizer Nationalspieler von Bayer Leverkusen: „Durch die Resultate, die nicht immer positiv waren, ist eine gewisse Skepsis entstanden.“

Das allgemeine Unbehagen steht in schrillem Kontrast zur Zuversicht innerhalb der Mannschaft: „Wir wissen, dass wir eine gute Mannschaft haben“, sagt Mario Eggimann, Verteidiger vom Karlsruher SC, „wenn wir das nicht wüssten, wären die Erwartungen nicht so hoch.“ Obwohl die Schweizer schon in der Vorrunde auf Tschechien, Portugal und die Türkei treffen, soll das Turnier für sie erst mit dem Titel enden. An diesem Ziel haben auch die jüngsten Misserfolge nichts geändert. „Das Selbstbewusstsein hat unter den Niederlagen nicht gelitten“, sagt Kapitän Alexander Frei, der heute gegen Deutschland nach einjähriger Verletzungspause in die Mannschaft zurückkehrt.

Fünfzig Jahre liegt der letzte Sieg der Schweiz gegen Deutschland bereits zurück. In Begegnungen mit dem großen Nachbarn wird die Mannschaft fast traditionell von einem Minderwertigkeitsgefühl befallen, bei der EM aber darf sie sich solche Komplexe nicht erlauben. Um den Ernstfall möglichst realitätsnah zu simulieren, hat Kuhn seine Mannschaft daher in den vergangenen anderthalb Jahren vor allem gegen starke Nationen üben lassen – „um den Tarif zu kennen“, wie er sagt.

Der Tarif der Mannschaft ist im Ausland immer noch besser als in der Schweiz. Bundestrainer Joachim Löw zählt sie sogar „zu den EM-Mitfavoriten“. Schweizer Fußballer gelten als taktisch und technisch hochwertig, sie spielen vermehrt in europäischen Top-Ligen. Schon bei der WM 2006 präsentierte sich die Nati als funktionierende Einheit; was ihr noch fehlte, war das gewisse Etwas. Seitdem aber habe sich die Mannschaft „markant verbessert“, sagt Tranquillo Barnetta. Die jungen Spieler sind immer noch jung, aber sie sind in ihren Klubs von Ergänzungs- zu Stammspielern aufgestiegen. „Vielleicht war die Mannschaft noch nie so gut wie jetzt“, sagt Alexander Frei.

Tranquillo Barnetta würde es nicht stören, wenn seinen Landsleuten diese Erkenntnis fürs Erste noch verborgen bliebe. Ein gutes Spiel erhofft er sich gegen die Deutschen, damit die Stimmung nicht vollständig kippt, ein Sieg muss es nicht unbedingt sein: „Wenn wir gewinnen, denken alle, unsere EM-Gruppe ist nichts und wir holen aus den drei Spielen neun Punkte.“

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