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Große Erwartungen. Von Bastian Schweinsteiger hätten sich viele Fans in den letzten Spielen bessere Leistungen erhofft.

© Reuters

"Emotionaler Leader": Führungsspieler Schweinsteiger rennt seiner Form hinterher

Auf Bastian Schweinsteiger liegen die größten Hoffnungen für die Fußball-EM, die heute beginnt. Auf einem Spieler, den manche schon als Wiedergänger von Michael Ballack sehen – als einen, der nie einen großen Titel holt.

Er schlendert durch die Gänge des Mannschaftshotels, hält vor einem Kaffeeautomaten, bedient sich. Das Zwicken in der Wade scheint in diesem Moment an diesem Mittwoch verstummt – und auch der Blues der vergangenen Wochen. Während die Tasse vollläuft, blickt der Mann, auf dem die Hoffnungen von Millionen Menschen ruhen, in den Spiegel, der über dem Automaten angebracht ist. Er stellt den Kragen seines Polohemds hoch, legt seinen Kopf einmal nach links, dann nach rechts. Er greift nach der Tasse. Und dann lächelt er.

Am Abend kommt dann noch die Bundeskanzlerin zum Essen in das Mannschaftshotel am Rande von Danzig, das im 17. Jahrhundert mal ein Gutshof gewesen war, und Bastian Schweinsteiger sagt: „Ich mache mir keine Sorgen. Ich bin sehr heiß auf das Turnier.“

Die Millionen Menschen, die auf ihn hoffen, hoffen nun, dass das stimmt, dass seine Sorglosigkeit berechtigt ist. Viele Belege dafür gab es zuletzt nicht.

Noch vor wenigen Tagen sah die entsetzte Fußballnation Bastian Schweinsteiger auf einer Massageliege liegen, in einem Zelt, in dem die Fitnessgeräte aufbewahrt wurden, das war während der Vorbereitungswochen im französischen Tourrettes. Da lag er. Er bewegte sich kaum. Ein paar Tage ging das so. Schweinsteiger trainierte nicht draußen auf dem Platz wie die anderen 22 Fußballspieler. Er lief nicht, rannte nicht, war nicht am Ball. Er lag auf der Liege im Zelt.

Diese Bilder haben Eindruck hinterlassen im Selbstverständnis der Fußballnation Deutschland. Wenn heute in Warschau die Europameisterschaft beginnt, wird die deutsche Mannschaft ins ukrainische Lemberg gereist sein, wo sie am Sonnabend mit ihrem Spiel gegen Portugal ins Turnier einsteigt. Bundestrainer Joachim Löw hat eine Mannschaft beisammen, die seit Jahrzehnten das größte Versprechen auf einen großen Titel ist. Bastian Schweinsteiger soll diese Mannschaft führen. Und das ist das Problem.

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Bastian Schweinsteiger sucht nach Halt und Form. Wird er spielen, oder wird die Mannschaft ohne ihn auskommen müssen? Was bedeutet das für die Titelaussichten – und was für Schweinsteiger? Wird Deutschland triumphieren? Möglicherweise ohne ihn? Wird er der nächste Michael Ballack? Einer, dem in seiner Karriere die entscheidenden Titel versagt bleiben?

Ballack hat eine Dekade lang erfolgreich verhindert, dass das Land des dreimaligen Welt- und Europameisters in der Versenkung verschwindet. Als es ihn vor wichtigen Spielen bei der WM 2006 und der EM 2008 in der Wade zwickte, herrschte helle Aufregung. Von der „Wade der Nation“ war die Rede. Seit der WM 2002 galt der Satz von Teamchef Rudi Völler, wonach alles passieren dürfe, nur keine Verletzung Ballacks. Bei der WM vor zwei Jahren ist genau das passiert. Ballack fiel aus, und Schweinsteiger war es, der in dessen Rolle rückte und die Panik der Deutschen einfach überspielt hat. In den Jahren danach füllte Schweinsteiger die Chefrolle beim FC Bayern und in der Nationalmannschaft immer besser aus. Die Mitspieler gestehen ihm auf dem Platz die absolute Handlungshoheit zu. Aus dem zappeligen, manchmal auch launischen Außenspieler war ein Anführer erwachsen, ein „emotionaler Leader“, wie Löw es formuliert.

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Dann kam das Finale der Champions League gegen den FC Chelsea in München. Dahoam! Und es kam mit einer Wucht, wie sie fürchterlicher nicht sein konnte. Schweinsteiger vergab nach der Verlängerung im Elfmeterschießen den letzten, den entscheidenden Schuss. Der Ball klatschte an den Pfosten. Chelsea gewann.

Ein schrecklicher Moment für die Bayern, ein tragischer für Schweinsteiger. Er wirkte wie ein gebrochener Mann.

Jeder hat gesehen, wie Schweinsteiger sich das Trikot übers Gesicht zerrte, weil er sich schämte. Und weil er nicht ertragen konnte, wie der Gegner die Trophäe davontrug. Es sind Verzweiflungsbilder, die man gerade auch von Ballack kennt, und sie sind erdrückend ähnlich.

Zweimal hat der Sachse im Finale der Champions League gestanden, 2002 mit Leverkusen und 2008 mit dem FC Chelsea. Beide Male hat er verloren. Vor allem die Niederlage 2008 gegen Manchester United war für den Deutschen tragisch, als sein Mitspieler John Terry den entscheidenden Elfmeter gegen den Außenpfosten drosch und Ballack im Moskauer Regen auf Höhe der Mittellinie auf die Knie sank. Er selbst hatte seinen Elfmeter verwandelt. Ein schwacher Trost.

Erst der Held, dann der Depp. Alles liegt nah beieinander.

Schweinsteiger hat es schlimmer erwischt. Noch wenige Tage zuvor, im Halbfinal-Rückspiel gegen Real Madrid, hat er den entscheidenden Elfmeter verwandelt und die Bayern überhaupt erst in das Finale gebracht – in dem er dann den ganz großen Triumph vermasselte. Jupp Heynckes, Bayerns Trainer, sagte danach, dass man damit erst mal fertig werden müsse. Gerade bei Schweinsteiger werde es ein paar Tage dauern. „Aber er wird das wegstecken“, sagte Heynckes. Große Enttäuschungen gehörten zum Fußballer-Leben dazu wie Siege und Titel.

Schon in Tourrettes hatte sich dann noch herumgesprochen, dass irgendetwas mit Schweinsteigers Wade sei. Er hatte sich die Verletzung zu Beginn des Finals zugezogen und dann bis ins Elfmeterschießen durchgehalten. Ein Bluterguss, hieß es, nicht weiter schlimm. Doch dann zwickte die Wade hartnäckiger als erwartet. Oder war es gar nicht die Wade? Ist Schweinsteigers Kopf nun die Wade der Nation?

Über die angeknackste Psyche der Bayern ist viel diskutiert worden. Es war ja nicht nur ein Knacks, den es zu verkraften galt. Die Meisterschaft war schon im April nach der erneuten Niederlage gegen Dortmund futsch. Mitte Mai wollten die Bayern im Pokalfinale zurückschlagen. Sie wurden vorgeführt – 2:5. Dann noch das Spiel gegen Chelsea.

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So bekommt die EM gerade eine ganz neue Bedeutung. Die jungen Münchner wie Toni Kroos, Thomas Müller oder Manuel Neuer erkennen hierin eine Chance, die vermaledeite Saison doch noch mit einem Titel zu retten. Bei Schweinsteiger scheint die Fallhöhe noch einmal größer auszufallen. Er wirkt bedrückt. Manchen beschlich bereits das Gefühl, als sei es Schweinsteigers letzte Chance.

Im Pressezentrum neben dem Mannschaftslager will Löw von so etwas natürlich nichts hören. Am Donnerstag ist er optimistisch. Sagt, dass Schweinsteiger sich einen besseren Rhythmus erarbeitet habe, dass er körperlich in einem besseren Zustand sei als in der vergangenen Woche. „Ich denke, er ist einsatzbereit“, sagt Löw. Einsatzbereit. Reicht das?

Am Montag trainierte Schweinsteiger das erste Mal mit Ball und Mannschaft. Beschwerdefrei, wie es hieß.

In Bestform kann er nicht sein. Dafür hat Schweinsteiger zu viel wegstecken müssen. An Körper und Geist. Einen Schlüsselbeinbruch im Herbst und einen Außenbandriss im Knöchel im Frühjahr sowie die verlorenen Finals.

Seitdem hat Bastian Schweinsteiger sich kaum geäußert. „Es geht mit gut“, war mal ein Satz. Er taste sich an seine Spritzigkeit heran. Das alles habe „doch sehr viel mit dem Kopf zu tun“. Und außerdem: Einen Titel hole man nicht einfach nur so, durchs Reden oder dass er auf einen zukommt. „Man muss dafür etwas tun.“ Dann schwieg er wieder.

Dafür diskutiert die Nation: Wird er spielen? Und wenn – wie?

Schweinsteigers Spiel hat nicht dieses Aufsässige eines Thomas Müller, das Anstiftende von Mario Götze oder gar das Lyrische von Mesut Özil, die dem Spiel der deutschen Mannschaft die besonderen Momente verleihen. Und doch ist Bastian Schweinsteiger ein besonderer Fußballer. Vielleicht deswegen, weil er ein anderer Fußballer geworden ist, als vorgesehen war. Vorgesehen war das Spektakelhafte, begründet in seiner Dribbelkunst, der flinken Auffassungsgabe und den frechen Füßen. Nun steht er im Zentrum des Spiels. Mit seiner Ballsicherheit, seinem Positionsspiel und seiner Übersicht sorgt er für die Symmetrie und Statik im Team. Er verbindet das Aufsässige, das Anstiftende und das Lyrische. Und Schweinsteiger kann die Mannschaft tragen. Er hält das Spiel in seinem Zentrum zusammen. Schweinsteiger ist Löws Schlüsselspieler. Er ist sein strategischer Taktgeber. Unklar ist, welchen Takt Schweinsteiger derzeit anschlagen kann.

„Lieber möchte ich 90 Länderspiele und einen WM- oder EM-Titel haben, als Rekordnationalspieler zu werden.“ Dieser Satz stammt von Schweinsteiger aus dem September 2009. Damals bestritt er sein 70. Länderspiel – mit 25 Jahren. Er war damit auf dem besten Weg, Lothar Matthäus abzulösen, mit 150 Einsätzen Rekordhalter. Kurz vor der EM 2004 hatte er sein Debüt in der Nationalmannschaft gegeben. Seitdem ist er 2006 und 2010 WM-Dritter geworden und 2008 EM-Zweiter. Inzwischen steht er bei 90 Länderspielen. Einen Titel aber hat er immer noch nicht gewonnen.

Weiß jemand noch, was das beste Fußballeralter ist?

Bastian Schweinsteiger ist auch der Leader einer Generation, die den Vergleich mit der Mannschaft von 1972, der besten deutschen überhaupt, nicht zu scheuen braucht. Aber: Sollte diese Generation keinen Titel holen, wird das ihr ewiger Makel werden. Nicht, weil es von ihr erwartet wurde, sondern weil es erwartet werden durfte. Löw sagt, die junge Mannschaft habe Potenzial und Ehrgeiz genug, um einen Titel zu holen. Vielleicht aber, sagt der Bundestrainer, „haben sie erst in zwei oder vier Jahren ihren absoluten Zenit erreicht“. Meint er damit auch seinen Topmann im Zentrum?

Bastian Schweinsteiger ist jetzt 27. Bestes Fußballeralter, hieß es mal. Heute weiß niemand mehr, was das beste Fußballeralter ist. Spieler wie Özil oder Sami Khedira sind schon mit Anfang 20 auf einem so hohen Niveau angelangt, dass keiner sagen kann, ob es noch weiter nach oben geht. Auch Schweinsteiger war einer jener Spieler, die früh gut sind und noch besser werden, die in ihren Klubs Verantwortung übernehmen und schnell auf viele Länderspiele kommen. Die aber gefährdet sind, auch schneller zu verbrennen. Matthäus, der mit fast 40 noch die EM 2000 spielte, war eine Ausnahme und wird das immer bleiben.

Das erste Spiel, das den Deutschen bevorsteht, ist gegen Portugal. Es wäre ein guter Einstieg für Schweinsteiger, der als so etwas wie der personifizierte Portugalschreck gilt. Bei der WM 2006 schoss er im Spiel um Platz drei zwei Tore zum 3:1-Sieg, und bei der EM 2008 leitete er mit seinem Tor den 3:2-Sieg im Viertelfinale ein. Das waren große Tage.

An den kleineren Tagen, als nicht klar war, welchen Dreh seine Karriere nehmen würde, hat er seine Fingernägel schwarz lackiert, seine Haare silbern gefärbt, weiße Schals umgebunden und der Kanzlerin ins Ohr geraunt: „Sie können mich immer duzen.“ Das war bei der Heim-WM 2006, als er zusammen mit Podolski noch das ulkige Gute-Laune-Paar des deutschen Fußballs gab. Als „Poldi & Schweini“ waren sie die Strahlemänner des Sommermärchens.

Sechs lange Jahre später steht Trainer Löw vor einer wichtigen Entscheidung. Stellt er Schweinsteiger auf den Platz, oder lässt er es sein? Ein Schweinsteiger tut der Mannschaft gut. Nur benötigt er für sein Spiel Fitness und Rhythmus, die er nach langwierigen Verletzungen nicht haben kann. Sein Spiel kreist zwischen Ballsicherheit und Spielkontrolle. Doch es ist ein schmaler Grad, bis aus Spielkontrolle Spielverschleppung wird, wenn sein Wirken das Spiel statisch und durchschaubar werden lässt. Wie neulich im Berliner Pokalfinale. Schweinsteiger spielte in einer eigenen Geschwindigkeit, in einer langsameren. Seine körperlichen Defizite waren augenscheinlich. Wenn er einem Dortmunder hinterherlief, wirkte es, als tuckerte ein Traktor einem Sportwagen hinterher. Und Löw liebt Tempo.

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