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Sport: Fussball im Osten: Kein Berg so hoch, kein Tal so tief

Dies ist ein alpines Drama, obwohl es im lieblichen Thüringen spielt. Aber so hoch, wie wir mal standen, ragt kein Thüringer Berg, und kein Tal ist so tief, wie wir gefallen sind.

Dies ist ein alpines Drama, obwohl es im lieblichen Thüringen spielt. Aber so hoch, wie wir mal standen, ragt kein Thüringer Berg, und kein Tal ist so tief, wie wir gefallen sind. Wir alten Carl-Zeiss-Jena-Fans können erzählen, wie man Valencia schlägt, Benfica, Ajax, AS Rom. Die Kinder wissen, wie man gegen Pfullendorf verliert, gegen Wehen, Elversberg, die Sportfreunde Siegen. Letzteres geschieht gerade. Es ist Freitagabend im Ernst-Abbe-Sportfeld von Jena, und schon zur Halbzeit steht es 0:3.

Eine Hundertschaft von Jung-Zeissianern hat sich mit dem Dutzend Gästefans verbrüdert, kräht KÄMPFEN UND SIEGEN und Hohengesänge auf den eigenen Verein. WIR SIND DAS VOLK, johlen die Entzeissten, VORSTAND IN DIE PRODUKTION, AUSSER BARICH KÖNNT IHR ALLE GEHN! Barich ist nur Wechselspieler, aber seine Freundin Karina hat die RTL-Pop-Stasi-Show "Big Brother" gewonnen: der einzige Carl-Zeiss-Triumph dieser Saison. Die sportliche Bilanz: 18. und letzter Platz der Regionalliga (Staffel Süd), Abstieg in die Oberliga Nordost.

Zur Salzsäule erstarrt stehst du neben dem Siegener Tor. Fassungslos verfolgst du das traurige Gehampel deiner Blauweißen, denen der Schiri, damit sie nicht weinen, einen Elfmeter schenkt. Böcker trifft zum sogenannten Ehrentor. Tatsächlich, um ihre Ehre wollten sie kämpfen heute Abend, nach dem Mannschafts-Ultimatum an den Clubvorstand: Haltet Trainer Petrovic, dann bleiben wir auch in Jena, für weniger Geld und mit voller Kraft für den Wiederaufstieg. - Petrovic ist nicht zu halten, das weiß er selbst. Da kauert der einstige Retter vor der Presse und murmelt von verdienter Niederlage, und noch immer spricht sein Präsident und Schützer das Urteil nicht aus - nicht vor den Kameras und der grölenden Meute unterm Fenster. Doch in dieser Nacht wird Petrovics Telefon klingeln.

Ja, Nacht ist. Die Tragödie des FC Carl Zeiss Jena wäre auch aus Dresden, Leipzig, Magdeburg zu berichten: der Niedergang des Ostfußballs. Perry Bräutigam, ein großer Zeiss-Torwart, hat mal gesagt: Die Zeit heiligt alle Wunden. - Diese Zeit schlägt welche. Niemand behelligt uns mit dem Trost, dass Hansa Rostock und Energie Osteuropa sich an den Katzentisch der Bundesliga gedrängelt haben. Auch die hundert Ossis in Westvereinen stiften eher Schmerz als Stolz.

Dass ihre Herzenskicker wie die Söldner mit dem Gelde ziehen, finden Ostfans immer noch obszön. Die DDR-Oberliga war ja die konservativste der Welt. Im Kern blieben die Mannschaften über Jahre beieinander. Spielerwechsel gab es kaum, außer von schwächeren Vereinen in die Leistungszentren. Besonders Erich Mielkes BFC Dynamo profitierte von "Delegierungen", aber in den Siebzigern auch der FC Carl Zeiss. Die Clubs hatten Träger-Kombinate, und Jena war das Wirtschaftsmekka der DDR. Dort zu spielen reizte auch materiell. In Aue krächzen die ganz alten Wismut-Kumpel noch heute, wenn Jena kommt: Nieder mit der Fiat-Elf!

Jenas Goldenes Zeitalter begann, als 1958 Georg Buschner Cheftrainer wurde. Buschners Rezept hieß Kondition. Er drehte den Bierhahn zu, engagierte Sportmediziner und schliff sich eine Kavallerie, die im heimischen Stadion alles flachritt. 1963, 1968 und 1970 wurde Jena Meister und hält den schier unauslöschlichen Rekord von 75 ungeschlagenen Heimspielen hintereinander. In Serie produzierte der Verein Nationalspieler, deren berühmteste die Brüder Roland und Peter Ducke waren.

1970 musste Buschner Nationaltrainer werden. Er sträubte sich vergebens. Ein Jahr noch amtierte er in doppelter Funktion und ließ mitunter den FC Carl Zeiss Jena als DDR-Equipe auflaufen.

1971 übergab er die Vereinsmannschaft seinem jungen Assistenten, der dann zwölf Jahre Zeiss-Coach blieb: Hans Meyer. Meisterehren blieben Meyer verwehrt, aber dreimal holte er den Pokal. Der FCC war Stammgast im Europacup. 1979 gewann er 2:1 bei West Bromwich Albion - der erste deutsche Europapokalsieg bei einem englischen Verein. 1981 dann die Krönung: Europacup-Finale gegen Dynamo Tbilissi - in Düsseldorf. Dort begähnten 9000 Besucher ein Spiel, das Prag oder Budapest zum Wallfahrtsort gemacht hätte. Tbilissi siegte 2:1.

Holzfußball in Eisenhüttenstadt

In der folgenden Saison scheiterte Jena mit 2:3 und 0:0 an Real Madrid. Diese furiosen Partien waren die Spätwerke einer großen Zeiss-Elf mit Matz Vogel, Konni Weise, Lothar Kurbjuweit, dem extraterrestrischen Keeper Sprotte Grapenthin ... Peu à peu glitt der Verein ins Mittelmaß. 1991 schaffte er mit hängender Zunge und dem letzten aller 24 200 DDR-Oberligatore die Qualifikation zur Zweiten Bundesliga. Dort bolzten wir drei Jahre wacker mit, stiegen 1994 mit Pech ab, krabbelten gleich wieder hoch, blieben abermals drei Jahre und rauschten 1998 hochverdient und mit Karacho zurück in Liga 3.

Es folgte: Spielerflucht, eiliger Neukauf biederer Fußwerker, ein Jahr Holzfußball zwischen Stendal und Eisenhüttenstadt. Oh ja, auch in Spandau verloren wir, durch Elfmeter-Nachschuss, in der 91. Minute. Dies ist überhaupt ein Wesensmerkmal des Nachwende-FCC: Er mutierte zum Bluesverein. Kein zweites Team der bekannten Welt verwöhnt seine Getreuen derart oft mit Last-minute-Desastern. Gänzlich fern liegt dem heutigen Zeiss-Fan Siegeszuversicht. Er prahlt nicht, er grölt keine Chauvi-Sprüche, er haut Feindfans nicht aufs Maul. Er blutet nach innen. Skeptisch schlurft er ins Stadion, sieht die erhabenen Kernberge nicht und nicht die blinkende Saale. Der namenlose Gegner kränkt ihn, und die böse Ahnung der nächsten Pleite. Ä Unentschieden, spricht der Zeiss-Fan, das wär ä Gottesgeschenk.

Es kam die Saison 1999/2000. Sieben Teams der Regionalliga Nordost würden sich für die neue 3. Bundesliga qualifizieren. Nach halber Distanz rottete Jena auf Rang 16. Der Heiland erschien: Slavko Petrovic, Sohn des Ex-Polizeipräsidenten von Belgrad und daselbst einst Torwart bei Roter Stern. Er nannte Jena, völlig korrekt, einen Weltverein. Er blies zu einer unglaublichen Aufholjagd. Am Ende waren wir Vierter.

In der neuen Liga galt Jena als Geheimfavorit. Dann diese Saison, ein Potpourri aus Unvermögen, Pech und Resignation. Niemand weiß, was nun wird. Der Verein, aus Prinzip schuldenfrei, hat wenig Geld. Der Vermarkter Kinowelt drosselt seine Gabe, wie Lothar Späths Jenoptik und das Zeiss-Werk schon längst. Kleinsponsoring dominiert, das Eichhörnchen - unfassbar für eine prosperiende Stadt mit solcher Fußballgeschichte. Aber ein Absteiger gilt eher als Charitas-Klient denn als Werbeträger. Zudem investiert der FC Carl Zeiss Jena, anders als viele Konkurrenten, nur etwa die Hälfte seines Etats ins Profiteam.

Der FCC ist ein sozialbewusster Komplettverein mit großer Nachwuchsabteilung, Sportinternat, Fanprojekt ... Die besten Junioren werden mit Leistungsverträgen ausgestattet, damit sie nicht sofort nach Westen entlaufen. Das kostet, aber die Ex-Jenenser Akpoborie, Schneider, Böhme ... haben dem Club keinen Pfennig eingetragen.

Einer der Entlaufenen, Jörg Böhme, wird am nächsten Tag Schalke fast zum Meister machen. Du hörst das Bundesliga-Finale, Erdbeertorte futternd, in einem Jenaer Straßencafé: fremde Liga, falsche Welt. Im Fernsehen dann der obligatorische Bayern-Triumph, die immergleiche Jubelsuppe Effenbauerbeckenfeld, und allzeit tobt der Torwart Kahn durch die Endlosschleife des Börsenballs der Hochfinanz. - Was ich am Fußball liebe? Treue, Trotz und Grasgeruch.

Im Bernsteinzimmer

Am Morgen kam der Präsident ins Stadion. Dr. Schmidt-Röh nahte sich mit jener sorgenschweren Würde, in der ein deutscher Akademiker einen Chefredakteur entlässt. Jena ist Kulturstadt. Ernst geziemt, Besinnung tut not, und Dank. Auch Trainer Petrovic dankte den Spielern. Dann traten alle ins Freie; hängende Köpfe, leeren Blicks. Einige wischten die Augen. Dann standen sie reglos auf dem Platz, zu zweit, zu dritt, allein - eine Choreographie der Verlorenheit. Ich sah sie stehen, fast taten sie mir wieder Leid, da dachte ich plötzlich: Ich liebe euch nicht. Einige mag ich - Böcker, Treitl, dich, Saraba, für deine Tränen, Aleks Jovic, du sausendes Kind ... Aber wer seid ihr mir, wenn ihr jetzt auseinanderflieht? Was ist dann der FC Carl Zeiss?

Die Berge. Der Fluss. Unser wunderbares Stadion. Das Wappen, die Farben, die Fans. Der FC Carl Zeiss Jena, das sind wir selber.

Wir, die wir der FC Carl Zeiss Jena bleiben, saßen am Abend im Fanheim und feierten: 20 Jahre Fanclub The Eagles. Was gab es nicht alles zu schwärmen von unseren früheren Schlachten, die in Sieg und Verlust immer dasselbe errangen: Heimat und Biographie. Ober-Eagle Jörg Dern rollte die alte Fahne aus, ein umgenähtes Banner der FDJ. Dann lief das gute Apoldaer Bier, dann der Film der Filme: "Der Weg ins Finale". Noch einmal zerstrümmerte Bielaus Doppelhammer den AS Rom, verröchelte Valencia, torkelte Benfica Lissabon ins Nichts, und Grapenthin hielt, hielt, hielt. Dann schloss Jörg das Bernsteinzimmer auf, und wir beschauten die Prachtwimpel unserer Opfer, von Ajax Amsterdam bis Olympique Marseille, und fühlten uns durchaus gewappnet.

Auf dem Jenaer Trödelmarkt fand ich einen pompös gerahmten Spruch: "Leuchtende Tage, nicht weinen, weil sie vorüber, lächeln, weil sie gewesen." Das ist ein Grabwort. Aber wir wollen leben.

Der Autor ist Redakteur im Berliner Büro der Wochenzeitung "Die Zeit", Schriftsteller und seit 1965 Fan des FC Carl Zeiss Jena.

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