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Sport: Fußball-Krawalle: Europameisterschaft, England gegen Deutschland: In Charleroi schlugen sich die Fans die Köpfe blutig

Sollte man nicht gleich Studios an den Brennpunkten des Fußballs einrichten? Mobile Fernsehstationen, in denen ein gut gelaunter Moderator über das live übertragene Geschehen vor der Tür mit Gästen plaudert?

Sollte man nicht gleich Studios an den Brennpunkten des Fußballs einrichten? Mobile Fernsehstationen, in denen ein gut gelaunter Moderator über das live übertragene Geschehen vor der Tür mit Gästen plaudert? Man könnte dann einen Polizeioffizier nach dem Ertrag seiner Taktik einvernehmen, oder Barbesitzer die Höhe ihrer Schäden bilanzieren lassen oder schließlich - Höhepunkt des Kitzels - verhaftete Hooligans befragen, wie sie sich nun fühlen.

Auf solche Gedanken konnte man durchaus kommen, am vergangenen Sonnabend in Charleroi auf dem Place Charles II. Der Platz ist, wie alles in der südbelgischen Stadt, etwas heruntergekommen. Putz bröckelt von den Fassaden, die zahlreichen Straßencafés haben auch schon bessere Zeiten erlebt, der Springbrunnen in der Mitte des Platzes ist dürftig aufgehübscht mit einem überdimensionierten Fußball. Weil das so marode ist, weil es sich hier nicht mehr wohnen lässt und auch keine Geschäfte zu machen sind, stehen die meisten Häuser rund um den Platz leer. Und das ist ein Segen für die ungezählten europäischen Kamerateams. Die haben sich nämlich in den verwaisten Räumen eingenistet und können nun von hoher und sicherer Warte aus Hooligans filmen, deutsche Hooligans, englische Hooligans, fliegende Stühle, zerberstende Tische, speiende Wasserwerfer, wirbelnde Polizeiknüppel. Und wenn Blut fließt, ist auch das wunderbar ranzuzoomen.

Es gab viel zu filmen am Freitag und am Sonnabend, als die Fußballnationalmannschaften von England und Deutschland zum Gruppenspiel der Euro 2000 im Stade du Pays de Charleroi antraten. Es wird wohl auf ewig offen bleiben, ob die starke Medienpräsenz den Auftritten von Hooligans nur folgt oder sie zumindest mitbefördert. Sicher jedoch ist, dass eine gewisse Geilheit auf den Schauder existiert. Zeitweise waren etwa 5000 Menschen auf dem kleinen Platz versammelt und schauten dem randalierenden Treiben von vielleicht 300 zu, wohl wissend, dass das gefährlich, sehr gefährlich werden kann. Eine Frau, unüberhörbar aus Sachsen, war auf jeden Fall am Sonnabend ziemlich empört über "diese Idioten, die alles kaputtmachen." Sie war dann aber auch ein wenig enttäuscht, als sie hörte, dass es hier am Vorabend eine Messerstecherei gegeben hatte: "Schade, wir waren am falschen Platz." Die Messerstecherei verlief glimpflich, ein Engländer wurde leicht verletzt, und die Sächsin bekam auch noch ihr Abenteuer. Als ihr Freund etwas zu betrunken und etwas zu wild durch den Springbrunnen tobte, praktizierte die belgische Polizei das Prinzip Null Toleranz und führte ihn zusammen mit seiner protestierenden Freundin recht rüde weg.

Natürlich, Fußballspiele dieser Größenordnung ziehen fast zwangsläufig Gewalt nach sich. Die Aggressivität war in Charleroi das ganze Wochenende zu spüren. Es genügten geringfügige Anlässe, um sie ausbrechen zu lassen. Am Freitag hatte ein arabisch-stämmiger Mann einen Fußball, mit dem die Engländer auf dem Platz kickten, achtlos eine Straße hinunter getreten. Er musste, nachdem die Engländer in ihm einen Türken erkannt haben wollten, bange Minuten überstehen, bis die Polizei eingriff. Man muss wissen, dass zwischen den Fans beider Länder offener Hass herrscht - vor zwei Monaten waren vor dem Uefa-Cup-Spiel zwischen Galatasaray Istanbul und Leeds United zwei Engländer erstochen worden. Das Schlimmste wird nun für heute erwartet, wenn in Brüssel Belgien gegen die Türkei spielt. Englische Hooligans haben eine regelrechte Jagd auf Türken angekündigt.

Ist es da nicht schon ein Zeichen von Resignation, wenn die Polizei - alleine in Charleroi waren 3000 Beamte im Einsatz, dazu kamen 120 berittene Polizisten, 30 Wasserwerfer und 45 Hundeführer - sich am Sonntagfrüh um ein Uhr "insgesamt zufrieden" gibt? Auch Bundesinnenminister Otto Schily dankte den Behörden, bescheinigte ihnen hervorragende Arbeit, weil es "relativ ruhig" geblieben sei. Vielleicht war es ja auch relativ ruhig, verglichen mit den stundenlangen Straßenschlachten, die sich vor zwei Wochen in Kopenhagen britische, türkische und schwedische Schläger lieferten, und auch verglichen mit den Vorkommnissen bei der Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich, als in Lens deutsche Hooligans den französischen Gendarmen Daniel Nivel zum Krüppel schlugen. Allein, was ist das für eine Ruhe, wenn die Bilanz des Friedens derart üppig ausfällt: An diesem Wochenende wurden in Brüssel und Charleroi 850 Personen verhaftet, 16 wurden verletzt, davon zwei Polizisten.

Die Normalität sah am Freitag zum Beispiel so aus: Irgendwann in der Nacht fuhr ein belgisches Auto um den Kreisel des Place Charles II, die Insassen hielten eine französische Fahne in den Wind. Wieder sahen englische Fans vermeintlich Türken im Auto, es kam zum Schlagabtausch, zum Hieb mit einer Stahlrute, zu blutigen Köpfen. Die Szene konnte gut im Fernsehen verfolgt werden, die Kameramänner hatten lange ausgeharrt.

Auch so sah die Normalität aus: Eine Gruppe Deutscher, etwa 15 bis 20 Männer, grölte auf dem Place Charles II "Wir sind wieder einmarschiert!" Man muss nun nicht glauben, das habe die Engländer wegen mangelnder Sprachkenntnisse kalt gelassen, die Gruppen kennen die Möglichkeiten der Provokation genau. Sekunden nach dem Spruch standen sich Engländer und Deutsche gewaltbereit gegenüber, die Übermacht der Briten ließ die Deutschen fliehen. Stühle flogen ihnen hinterher.

Es war wohl nicht die Polizeipräsenz, die jene zuvor in der Szene angekündigte "Legendenschlacht" zwischen Engländern und Deutschen verhinderte. Schon vorab hatten deutsche Hools bekannt, dass ihnen "das Pflaster in Charleroi zu heiß" sei. Ein kurzes Gefecht am Sonnabendmittag auf dem Place Charles II sah doch sehr nach dem Versuch eines kalkulierten und ehrenvollen Rückzugs aus. Die Polizei hatte den Platz in drei Zonen eingeteilt. In der einen saßen und tranken und grölten etwa 1000 Engländer, Hooligans und Fans vermischt und vom Rest des Platzes durch eine Kette aus Beamten getrennt. In der zweiten Zone saßen und tranken und grölten etwa 100 deutsche Hooligans, gleichsam abgeschottet. Und in der dritten Zone saß und trank der Rest - Schaulustige, Schauderlustige und Mitläufer.

Irgendwann formierten sich die Deutschen Hooligans, und die Art und Weise, wie sie die Polizisten erst provozierten, dann attackierten und schließlich von ihnen niedergeknüppelt, festgesetzt und abtransportiert wurden, ließ vermuten, dass sie genau das vorhatten. Dass die Polizei eine Schlacht verhindert, ist nach dem Kodex der Szene immer noch besser als ein freiwilliger Rückzug vor dem Gegner oder gar eine fürchterliche Niederlage. Etwa 40 Deutsche wurden bei dem Scharmützel verhaftet, anschließend war die Innenstadt frei von Deutschen. Die noch nicht inhaftierten deutschen Hooligans zogen sich in den deutschen Teil der zweigeteilten Stadt zurück. Zu einer Konfrontation zwischen den Lagern kam es nicht mehr.

Aber hatte dergleichen nicht verhindert werden sollen, durch Reisebeschränkungen, massive Grenzkontrollen und ein rigoroses Zuteilungsverfahren der Tickets? "Wir kriegen viele, aber wir kriegen nicht alle", sagte Udo van Dülmen, Pressesprecher beim Bundesgrenzschutzamt Kleve. Sie haben sich wirklich Mühe gegeben am Grenzübergang Lichtenbusch bei Aachen und an den anderen Übergängen. In Aachen standen szenekundige Beamte, und wen sie erkannten, schickten sie zurück. Und doch, sagte ein Gelsenkirchener Fan, "sehe ich hier Typen, die zu Hause seit zehn Jahren Stadionverbot haben." Schlamperei ist den Behörden wahrscheinlich nicht vorzuwerfen - diese Begleiterscheinungen sind wohl nicht zu verhindern, aber es stellt sich die Frage, ob öffentliche Fußballspiele dieser Art noch Sinn machen, wenn hinterher Menschen verletzt sind und Innenstädte verwüstet.

Die Trennung der Nationen hat in der Nacht von Charleroi keineswegs zu einer Befriedung geführt. Im Gegenteil, kurz vor der Halbzeit entflammte auf dem Place Emile Buisset die fürchterlichste Schlacht des Wochenendes, angesichts derer sich auch die von Schily so gelobte herausragende Arbeit der belgischen Polizei relativiert. Im und vor dem Café de Paris hatten sich britische Fans vor Fernsehern versammelt, um auch ohne Ticket das Spiel zu verfolgen. Der Inhaber des Lokals ist Türke, was lange niemanden störte, weil das Bier reichlich floss. Es muss ein falscher Blick gewesen sein, ein verbaler Schlagabtausch, der die Stimmung kippen ließ. Plötzlich schlugen sich die Engländer untereinander, binnen Sekunden war das Mobiliar des Lokals zerlegt, aus angrenzenden Kneipen strömten weitere Schläger hinzu. Spät erst kam die Polizei zum Schlachtfeld und fand sich einer Gruppe von etwa 200 Schlägern gegenüber. Später lagen Holzknüppel auf der Straße, verformt und verbogen von Schlägen auf Helme und Schilder.

Die Beamten trieben die Gruppe kreuz und quer durch die Stadt vor sich her; in den kleinen Gassen entstanden ständig neue Zentren der Gewalt. Als nach einer Stunde die Ruhe wieder einkehrte und auch die Fans aus dem Stadion abgezogen waren - die Engländer so glückstrunken, dass sie die Lust an der Randale verloren hatten, die Deutschen zum großen Teil frustriert in Bussen sitzend - kamen auch die Kamerateams aus ihren Wohnungen am Place Charles II. Die Schlacht hatten sie verpasst, aber deren Spuren - zertrümmerte Glasscheiben, zerbrochene Stühle und verbogene Verkehrsschilder - waren auch schön anzusehen.

Es steht eher nicht zu hoffen, dass die "relative Ruhe" von Charleroi bei dieser Europameisterschaft einmalig bleibt.

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