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Fußball: Kultur des Schummelns

Wer nicht erwischt wird, wird als besonders clever gefeiert. Was ist echt? Und was nur Taktik? Zeitschinden, Schauspielern und andere Betrügereien.

Dieter Hoeneß und Jürgen Klopp haben sich nie besonders gemocht. Wann genau das anfing mit der gegenseitigen Antipathie, lässt sich nur noch schwer rekonstruieren, aber es gab immer wieder kleinere Scharmützel, die nicht unbedingt zur Befriedung des Verhältnisses beigetragen haben. Eines hat sich im September 2006 zugetragen, als Hertha BSC am Mainzer Bruchweg spielte und Kevin-Prince Boateng nach einer Attacke von Markus Feulner verletzt am Boden lag. Fast drei Minuten dauerte es, ehe ein Mainzer Spieler den Ball ins Aus schlug. „Der Mainzer Trainer hätte seinen Spielern ein Zeichen geben müssen, stattdessen hat er sie noch aufgepeitscht“, ereiferte sich Herthas damaliger Manager Hoeneß. „Das hat mit Sport und Fairplay nichts zu tun.“

Vielleicht hätten die Mainzer schneller reagiert, wenn es nicht zuvor eine ähnliche Szene gegeben hätte, ebenfalls mit Boateng in leidender Position. Herthas Mittelfeldspieler hockte verletzt am Boden, allerdings so nah an der Seitenlinie, dass er sich ohne weiteres zur Behandlung neben das Feld hätte begeben können. Doch Boateng blieb auf dem Platz liegen, die ganze Berliner Bank zeterte – Hoeneß mittendrin –, und irgendwann spielten die Mainzer den Ball tatsächlich ins Aus, wenn auch mit großem Widerwillen.

Man kann das sogar verstehen. Wer erkennt denn noch, welcher Schmerz echt und welche Verletzung nur taktischer Natur ist, um ein paar Sekunden zu schinden? Früher war es eine Geste des Fairplays, den Ball ins Aus zu spielen, wenn ein gegnerischer Spieler am Boden lag. Die Mannschaft, die von der Unterbrechung profitierte, spielte den Ball zurück – und von den Rängen gab es Applaus. Heute klatscht in solchen Fällen niemand mehr, weil man sonst mit dem Klatschen gar nicht mehr nachkäme. Was in den Achtzigern noch die absolute Ausnahme war, vielleicht einmal pro Spiel passierte, ist heute gang und gäbe. „Für meinen Geschmack wird der Ball inzwischen eine Spur zu flott ins Aus gespielt“, hat schon vor fünf Jahren der ehemalige Berliner Schiedsrichter Lutz Fröhlich gesagt.

In den deutschen Fußball hat sich über die Jahre eine Kultur des Schummelns eingeschlichen. Es geht gar nicht um den großen Betrug, es sind die vielen kleinen Betrügereien, die sich zu einem Sittengemälde fügen. Wenn nach einer Verletzungsunterbrechung der Ball zum eigentlichen Besitzer zurückgespielt wird, dann ganz bestimmt nicht dorthin, wo er herkam. Im WM-Finale droschen die Holländer in einem solchen Fall den Ball weit in die Hälfte der Spanier – und stellten beim folgenden Einwurf alle Anspielstationen zu. Aus der fairen Geste der Spanier, die die Behandlung eines holländischen Spielers erst ermöglicht hatte, wurde letztlich ein klarer Nachteil.

Es gibt heutzutage auch kaum noch einen Einwurf, bei dem nicht aus jeder Mannschaft ein Spieler den Arm hebt, um zu signalisieren: Der Ball gehört uns. Und wer im Zweikampf oberhalb der Brust berührt wird, lässt nur selten die Gelegenheit verstreichen, eine Kopfverletzung vorzutäuschen. Adressat all dessen ist der Schiedsrichter, der unter Druck gesetzt und in seinen Entscheidungen beeinflusst werden soll.

Genauso verhält es sich mit den Schauspieleinlagen à la Norbert Meier. Wenn zwei Spieler in der Hitze des Gefechts ihre Köpfe zusammenstecken, kann man darauf wetten, dass einer von beiden plötzlich aufschreit, sich an die Stirn packt und schließlich zu Boden sinkt. Matthias Lehmann vom FC St. Pauli hat zuletzt auf diese Weise einen Platzverweis des Mönchengladbachers Igor de Camargo provoziert. „Er trifft mich an der Stirn, das Geschenk habe ich dann angenommen“, sagte Lehmann später im Fernsehinterview. „Ich wäre ja dumm, wenn ich das nicht machen würde. Ich bleibe ja nicht stehen, wenn wir 0:1 zurückliegen.“ Lieber unfair als dumm. Und wer sich nicht erwischen lässt, wird noch als besonders clever gefeiert.

Zur Kultur des Schummelns gehört es auch, im Zweifel den Schiedsrichter verantwortlich zu machen. Im aktuellen Streitfall zwischen Mainzern und Dortmundern wurde Felix Brych das Versäumnis unterstellt, das Spiel nicht unterbrochen zu haben. Regeltechnisch aber hatte Brych alles richtig gemacht.

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