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Mit dem Europameistertitel klappte es 2016 nicht. Vielleicht aber steht Toni Kroos im Sommer 2018 im Zenit seiner Schaffenskraft.

© Peter Powell/dpa

Fußball-Nationalmannschaft: Warum Toni Kroos der wichtigste Spieler ist

Laute Zwischenrufe, Schulterklopfen, Blitzlichtgewitter: Alles nicht seins. Er hat allein das Team im Blick. Mittelfeldspieler Toni Kroos ist längst der heimliche Kapitän der deutschen Nationalmannschaft.

Auf einmal platzte es aus ihm heraus. Als hätte er sämtliche Wut seiner Fußballerkarriere für diesen einen Moment gesammelt. Kaum hatte er den Rasen des Berliner Olympiastadions verlassen und das Licht der Fernsehkameras auf sich gespürt, donnerte er auch schon los. „Wir sind nicht so gut, wie uns immer eingeredet wird oder wie vielleicht auch einige von uns denken“, rief Toni Kroos. Er meinte den amtierenden Weltmeister, die deutsche Nationalmannschaft – seine Mannschaft. Vor vier Jahren hatte sie alle mit ihrem Fußball verzückt. 7:1 gegen Brasilien! Und jetzt das.

Diesmal verloren die Deutschen 0:1 gegen eben jene Brasilianer. Kroos war an diesem Märzabend nicht mehr zu halten. Sprach von „mangelndem Widerstand“ und „fehlendem Verantwortungsgefühl“ – scharfe Worte. Obwohl die meisten Fußballprofis es eigentlich gar nicht mögen, unmittelbar nach dem Schlusspfiff das Mikrofon hingehalten zu bekommen. Erst recht er. Toni Kroos ist nicht der Typ, der sich von seinen Emotionen mitreißen und treiben lässt.

„Es ist definitiv nicht so, dass wir der absolute Favorit sind, der nach Russland fährt. Das war vorher Quatsch, das ist jetzt Quatsch. Aber jetzt sehen es vielleicht ein paar mehr so“, erklärte er.

Wenn die deutsche Fußball-Nationalmannschaft am Dienstag als Titelverteidiger zur WM nach Russland fliegt, wird womöglich mancher an die Worte von Toni Kroos denken. Deutschland, der Weltmeister, soll nicht Favorit sein?

Auch nicht mit diesem Toni Kroos?

Dass er dabei sein wird in Russland, ist für viele Fußballfans hierzulande eine beruhigende Nachricht. Der 28 Jahre alte Mittelfeldspieler hat gerade eben zum vierten Mal die Champions League gewonnen, was vor ihm noch keinem Deutschen gelungen ist. Doch mehr noch. Als zentrale Figur hat er die Mannschaft von Real Madrid zum dritten Mal in Folge zum weltweit wichtigsten Titel im Klubfußball geführt, auch das ist einmalig.

Bei allen anderen spielt Unsicherheit mit

Kroos ist so etwas wie die Versicherung für die deutsche Nationalmannschaft – während bei allen anderen die Unsicherheit zumindest ein bisschen mitspielt. Wird Thomas Müller wirklich wieder so viele Tore schießen wie bei den zurückliegenden WM-Endrunden 2010 und 2014? Werden die in die Jahre gekommenen Manuel Neuer, Jerome Boateng und Mats Hummels gesund sein und noch einmal eine uneinnehmbare Festung bilden können wie vor vier Jahren in Brasilien? Nur bei Toni Kroos stellt sich keiner mehr Fragen. Mit seiner Souveränität kann er jedes Spiel lenken und vielleicht sogar noch mehr. Ist er nicht der wahre Anführer dieses Teams?

Es gibt nicht wenige, die glaubten, an jenem Märzabend in Berlin gegen Brasilien einen anderen, einen neuen Kroos gesehen und gehört zu haben. Der kann ja auch laut! An sich hält er sich mit Kritik und Äußerungen generell zurück, lässt überhaupt lieber die Füße sprechen. Und noch etwas war bemerkenswert: Für gewöhnlich mag Bundestrainer Joachim Löw es ganz und gar nicht, wenn Spieler eine solche Generalkritik am Spiel der Mannschaft und an Mitspielern üben. In diesem Fall aber gab er Kroos uneingeschränkt recht.

Als der aufstrebende Mittelfeldspieler Leon Goretzka, einer derjenigen, denen Kroos’ Kritik galt, im Trainingslager darauf angesprochen wurde, antwortete der 23-Jährige überraschend einsichtig. „Wenn ich mir Kritik annehme, dann von einem wie Kroos.“

Seit den Rücktritten der Weltmeister Philipp Lahm, Miroslav Klose und Per Mertesacker ist Toni Kroos in den Mannschaftsrat aufgerückt. Kroos ist längst der heimliche Kapitän. Aber keiner wie die Herren Matthäus, Effenberg oder Ballack, die lautstark und gestenreich die Mannschaft führten und auf dem Platz mal gehörig dazwischenfuhren.

Als Kroos am 3. März 2010 im Freundschaftsspiel gegen Argentinien in der Nationalelf debütierte, stand Ballack noch auf dem Platz. Es sollte, was damals noch nicht absehbar war, die letzte Partie des alten Mannschaftslenkers gewesen sein. Auf Ballack folgte Philipp Lahm und mit ihm eine neue, eine andere Art des Führens, nicht mehr von oben herab. Lahm hielt keine flammenden Appelle, er führte durch Leistung. Vor allem habe Lahm sich als Kapitän nie so wichtig genommen, „das hat mir gefallen“, hat Kroos einmal gesagt.

Er lässt Schweres leicht aussehen

Mittlerweile ist Manuel Neuer Kapitän des Teams. Der 32-Jährige führt durch Ausstrahlung, durch Präsenz und Körpersprache. Aber er steht im Tor, etwas abseits des Geschehens. Und ihm fehlen acht Monate Spielrhythmus. Hummels ist mit seinen 29 Jahren immer für eine starke Meinung gut, eine Art Außenminister des Teams. Der 31-jährige Sami Khedira wurde wegen seines Rundumblicks für das Auf- und Neben-dem-Platz von der „Süddeutschen Zeitung“ gerade als „Super-Minister“ betitelt.

Und Kroos? Wurde vom Boulevard schon mal zur „Pass-Maschine“ ausgerufen. Was für ein hässliches Wort für diese Gabe, nur weil sie maschinenhafte Präzision aufweist.

Es ist heute noch schön, sich jene Sechs-Minuten-Sequenz aus dem WM- Halbfinale von 2014 anzuschauen, auf die sich das sagenhafte 7:1 des späteren Weltmeisters Deutschland gegen Brasilien verdichten ließe. In diesen paar Minuten machen Kroos und Khedira aus einem 2:0 ein uneinholbares 5:0. Sie legen sich ihre Tore gegenseitig auf, alles sieht so aufreizend selbstverständlich aus. Beide werden auch in Russland das deutsche Zentrum bilden. Kroos ist kleiner und schmächtiger als der kräftige und kantige Khedira, körperlich eher ein Durchschnittstyp. Doch im Gegensatz zu Khedira scheint Kroos den Körper kaum zu brauchen. Ihn tragen Intuition und Technik, das Gefühl dafür, wo der Ball jetzt hin sollte und die Fähigkeit, ihm den passenden Drive zu verleihen. Sein Stil hat etwas Dirigentenhaftes. Es gibt nur wenige Spieler, die Schweres so leicht aussehen lassen können.

Wenige, die komplexe Spielsituationen in so kurzer Zeit erfassen und daraufhin so schnell die – meist – richtigen Entscheidungen treffen können. Damit ist er prädestiniert für das Zentrum des Spiels, die Rolle des Scharniers zwischen Abwehr und Angriff. Und dann: wirkt dieser Kroos so erstaunlich stressresistent!

Er könne Spielsituationen „spontan richtig auflösen“, hat Kroos einmal gesagt, weil er sich darauf verlassen könne, den Ball „relativ ordentlich“ annehmen zu können – und daher den Kopf frei habe. Bei Joachim Löw hört sich das so an: „Toni kann das Spiel mit seiner Technik in richtige Bahnen lenken.“

Verglichen mit Ronaldo führt er ein langweiliges Leben

Bei seinem Verein Real Madrid spielt er mit Cristiano Ronaldo zusammen, der nach außen alles überragt. Der wahre Macher aber ist Toni Kroos. Dass die meisten trotzdem nur von Ronaldo reden, ist ihm ganz recht. Nicht zuletzt sein Privatleben hält er – ganz anders als der extrovertierte Portugiese – genau: lieber privat. Über das, was dennoch bekannt ist, ließe sich zusammenfassend etwa sagen: Verglichen mit Ronaldo führt Kroos ein beinah schon langweiliges Leben.

Vor ziemlich genau drei Jahren hat Toni Kroos, geboren in Greifswald, mit zwölf umgezogen nach Rostock, seine Jugendliebe geheiratet. In diesem Sommer wird der gemeinsame Sohn fünf, die Tochter zwei. Kroos blühe auf, wenn er seine Kinder um sich habe, sagt einer aus seinem Umfeld. In Madrid lebt Kroos im abgeschotteten Viertel „La Finca“ in Pozuelo de Alarcon, wo viele Stars von Real, auch Cristiano Ronaldo, wohnen. Familie Kroos hat zwei Beagle-Hunde, mit denen Toni Kroos gern Gassi geht. Im Garten hängt ein Basketballkorb, auf den er gelegentlich ein paar Bälle wirft.

Im Fußball fürchten die Gegner ihn wegen seiner Passgenauigkeit. Seine Passquote in den zurückliegenden Jahren pendelt gleichbleibend hoch zwischen 97,5 und 99,5 Prozent. Dabei zählen die langen Bälle, gern über mehrere gegnerische Spieler hinweg, zu seinen Qualitäten. Oft genug reißen sie Lücken, in die Teamkollegen stoßen können, zeigen Laufwege und Räume auf und verschaffen seinen Mitspielern Zeit – das höchste Gut auf dem Feld.

Toni Kroos ist eineinhalb Wochen nach allen anderen Nationalspielern zur Mannschaft ins Trainingslager nach Südtirol gestoßen, als es fast schon vorüber war. Der Bundestrainer hatte dem deutschen Champions-League-Gewinner Sonderurlaub genehmigt. Kroos solle mal für ein paar Tage nicht an Fußball denken. Das sei für ihn wichtiger als trainieren. Oder, wie es Andreas Köpke, im Trainerteam für die Torhüter zuständig, sagte: „Der Toni ist ein Spieler, dem hätten wir bis zum ersten WM-Spiel freigeben können.“

Er gratuliert lieber per SMS als auf Twitter

Von welcher Bedeutung dieser Toni Kroos für die Nationalmannschaft ist, daran äußert innen wie außen keiner Zweifel. Allein das kann man sich fragen: Warum hat eigentlich nicht Toni Kroos die Binde am Arm, die doch nach wie vor als höchster Ausdruck genau dessen gilt, als eindeutige Würdigung, die auch noch der letzte Fernsehzuschauer versteht?

Kroos treibt diese Frage wohl nicht um. Es sei ihm nicht wichtig, für die Öffentlichkeit wichtig zu sein, hat er dazu gesagt. „Ich will für die Mannschaft wichtig sein und für den Trainer.“

Kroos hat sich ein Stück vorpommersche Gelassenheit hinübergerettet in die laute, schrille und oft auch überkandidelte Welt des Fußballs. Ihm sei nicht wohl, wenn jeder ihm auf die Schulter klopfe, sagt er. Dieser Mann taugt nicht fürs Posen, für die Inszenierung. Dabei würde die ihre Wirkung wohl kaum verfehlen. Allein auf Facebook hat er zwölf Millionen Follower, auf Twitter knapp sieben und auf Instagram folgen ihm 17,3 Millionen. Damit zählt er online zu den Nationalspielern mit den meisten Anhängern. Die Kanäle bedient er selbst. Als Kroos unlängst aus seinem Beraterteam den Hinweis bekam, gerade würden alle einem sehr bekannten Fußballer über die sozialen Medien zum Geburtstag gratulieren, ob er das nicht auch tun wolle, lehnte er mit der Antwort ab, er werde demjenigen mal eine SMS schreiben.

Toni Kroos geht seinen Weg. In Rostock trainierte einst sein Vater Roland ihn und seinen jüngeren Bruder Felix, der heute Spieler beim 1. FC Union Berlin ist. Bereits mit 16 wechselte Toni Kroos zum FC Bayern. Dort spielte er von 2006 an – mit einem eineinhalbjährigen Ausflug nach Leverkusen – bis 2014 und war wesentlicher Bestandteil jener Mannschaft, die 2013 das Triple aus Meisterschaft, Pokal und Champions League gewann.

Für die allermeisten Fußballer ist ein Engagement beim FC Bayern das Höchste der Gefühle, das Ende der Fahnenstange. Und es gibt Spieler, die noch einen Schritt weitergehen und von Real Madrid gerufen werden. Dort trägt Kroos nicht etwa wie manch anderer bloß gelegentlich den Vereinsanzug spazieren und verfolgt sonst das Geschehen von der Bank aus – er prägt und steuert auch hier das Spiel. Zinedine Zidane, einer der größten Fußballer überhaupt und in den zurückliegenden drei Jahren Trainer von Madrid, nennt Kroos schlicht „außergewöhnlich“. Ein Spieler „mit unglaublicher Ruhe am Ball und schnell im Kopf – das ist selten“.

Das Niveau ist da. Jetzt fehlt noch das Gefühl

Im Trainingslager der deutschen Nationalmannschaft in Südtirol sollen an einem Tag sämtliche 23 Spieler der deutschen Mannschaft für Interviews zur Verfügung stehen. Im Mannschaftshotel, das sonst komplett abgeriegelt ist, sitzen sie jeder an einem eigenen Tischchen.

Große Trauben von Reportern bilden sich um die Tische von Manuel Neuer und Mats Hummels, die am kleinen Strand der Poollandschaft aufgebaut sind. Thomas Müller, auch so ein begehrter Gesprächspartner, hat seinen Tisch oben auf der weitläufigen Dachterrasse.

Den Tisch von Toni Kroos müssen die Reporter erst suchen. Er liegt hinter einer Kurve auf einem anderen, zunächst nicht einsehbaren Teil der Terrasse. Vermutlich wollten die Mitarbeiter der Medienabteilung ihm einen Gefallen tun, ihn vor dem Rummel verstecken, abschirmen. Die Kamerateams finden ihn natürlich trotzdem.

Hundert Dinge wollen sie von ihm wissen. Welche Nationen sind die großen Favoriten, wie gut sieht er die deutsche Mannschaft nunmehr auf dem Weg zur Titelverteidigung? Der Toni Kroos, der die Fans im März mit ernüchternden Worten unsanft zurück auf den Boden des Fußballstadions holte, hat dieses Mal wohltuende für sie. Qualitativ sehe er das jetzige Team auf Augenhöhe mit dem Weltmeister-Team von vor vier Jahren, sagt Kroos, „vielleicht sogar besser“. „Mit Ball sind wir fast stärker als 2014, wenn wir das ohne Ball auch hinbekommen, werden wir gute Chancen haben in Russland.“ Entscheidend werde sein, „ob wir dieses Gefühl entwickeln können wie 2014, dieses Gefühl, ganz, ganz schwer zu schlagen zu sein. Dieses Gefühl, immer die Möglichkeit zu haben, ein Tor zu machen.“

Bestimmt war der Sommer 2014 der Sommer seines Lebens. Er wurde Weltmeister und wechselte zum größten Fußballverein der Welt. Vielleicht aber steht Toni Kroos im Sommer 2018 im Zenit seiner Schaffenskraft.

Es ist nur ein Spiel

Er sei in seiner Spielweise gereift, formulierte es Bundestrainer Joachim Löw im Trainingslager in Südtirol, und durch die Jahre im Ausland in seiner Persönlichkeit gewachsen. „Immer belastbar, ohne dass er Müdigkeit zeigt.“ Derjenige, der die Mannschaft aus seiner Position heraus führe, vor allem nie Nerven zeige. „Das alles macht ihn in seiner Art besonders.“ Es war die Eloge an einen, der noch gar nicht anwesend war – und dennoch über allen schwebte.

„Ich bin von meinen Qualitäten überzeugt und weiß, dass ich sie, egal in welchem Spiel, zeigen kann“, sagt Kroos selber dann in die Kameras vor seinem Interviewtischchen. Das gebe ihm Ruhe. Es gelingt ihm, diese Sätze zu sagen, ohne dass sie irgendwie arrogant klingen.

Und schließlich sagt er noch: „Es ist nur Fußball.“

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