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Fußball: Viva la Revolución!

Der Revolutionär hat’s schwer. Vor allem bei Bayern München, wie Jürgen Klinsmann gerade erfahren muss. Ein Rückblick auf erfolgreiche Revolutionen im Fußball.

Als Jürgen Klinsmann im Sommer bei den Bayern angefangen hat, wollte er das wiederholen, was ihm schon als Bundestrainer gelungen ist: eine Mannschaft in die Moderne führen. Das Projekt gestaltet sich schwieriger als gedacht. In der Bundesliga haben die Bayern drei der letzten vier Spiele verloren. Aber vielleicht war das 5:0 in Lissabon der erste Schritt nach vorn. Hier zu Klinsmanns Motivation ein paar Revolutionen im Fußball, die wirklich geglückt sind.

WM-System

Der 13. Juni 1925 war ein wahrhaft revolutionärer Tag für den Fußball. An diesem Tag wurde in Paris die Abseitsregel geändert. Fortan mussten nicht mehr drei gegnerische Spieler zwischen Ball und Tor sein, sondern nur noch zwei. In der Folge fielen deutlich mehr Tore. Doch wie so oft in der Geschichte des Fußballs dauerte es nicht lange, bis sich die Gegenbewegung formierte. Ihr Kopf war Herbert Chapman, so etwas wie der erste moderne Trainer der Fußballhistorie. Seine Maxime lautete: „Es ist mindestens genauso wichtig, dass wir unseren Gegner daran hindern, Tore zu schießen wie selber welche zu erzielen.“ 1925 übernahm Chapman den FC Arsenal, bis zu seinem Tod im Jahr 1934 gewann er drei Meistertitel und einmal den FA-Cup. Chapmans Erfindung war das sogenannte WM-System. Um die Defensive zu stärken, zog er den Mittelläufer als Stopper in die zentrale Verteidigung zurück, zwei der vorher fünf Stürmer spielten auf den Halbpositionen im Mittelfeld. In der Grundformation ergaben die Positionen ein W und ein M, daher der Name. Mit diesem System wurde Deutschland noch knapp 30 Jahre nach seiner Einführung zum ersten Mal Weltmeister.

Catenaccio

Kein Stil im Fußball ist verrufener als der Catenaccio. Er steht für die Perversion des Spiels, weil es zum ersten Mal nicht darum ging, ein Tor mehr zu erzielen als der Gegner, sondern darum, eins weniger zu kassieren. Helenio Herrera, der den Catenaccio bei Inter Mailand zur Perfektion trieb, hat seine Idee gegen alle Vorwürfe verteidigt: „Alles Gerede von Schönspielerei oder Offensive ist nichts als Geschwätz.“ Nur das Ergebnis zählt. Der Catenaccio aber war mehr als stupides Verteidigen. Herrera brauchte für seinen Art des Fußballs kreative und ballsichere Spieler, um das Mittelfeld schnell zu überbrücken. Prototyp war Inters Außenverteidiger Giacinto Facchetti, der sich regelmäßig ins Angriffsspiel einschaltete. Dadurch wohnte dem Catenaccio eine Dynamik inne, die ihm in der Regel abgesprochen wird.

Totaler Fußball

Zwei Wochen vor der WM 1974 erhielt Arie Haan die nicht unwesentliche Information, welche Rolle ihm während des Turniers zugedacht sein würde. Johan Cruyff, Kapitän der holländischen Nationalmannschaft, teilte seinem Teamkollegen beiläufig mit: „Du spielst Libero.“ Libero? „Bist du verrückt?“, fragte Haan. Libero hatte der offensive Mittelfeldspieler von Ajax Amsterdam noch nie gespielt.

Das Wesen des Totalen Fußballs lässt sich kaum besser illustrieren als mit dieser Begebenheit kurz vor der Weltmeisterschaft in Deutschland. Das Spiel der Holländer war von ständigen Positionswechseln geprägt, alles war im Fluss, die Verteidiger stürmten, die Angreifer verteidigten: Warum also sollte ein offensiver Mittelfeldspieler wie Haan nicht in der zentralen Verteidigung spielen?

Der Totale Fußball der Siebziger trägt bereits Züge des modernen Fußballs: Er verlangt taktische Flexibilität und setzt stark auf Automatismen. Viele sagen, es war die letzte wirkliche Revolution im Fußball; bei allem, was danach kam, handelte es sich nur um Modifikationen.

Seine Entstehung ist vor allem mit dem Namen Rinus Michels verbunden – und aus der Not geboren. Als Michels Ajax Amsterdam trainierte, erlebte er immer häufiger, dass seine offensivstarke Mannschaft auf massierte Abwehrreihen stieß. Der Totale Fußball war seine Antwort darauf: Jeder durfte angreifen, „vorausgesetzt, jeder fühlte sich auch für defensive Aufgaben verantwortlich“. Von 1971 bis 73 gewann Ajax auf diese Weise drei Mal den Europapokal der Landesmeister, bei der WM 1974 stellte die Mannschaft den Kern der Elftal, ihr Trainer war Michels.

Das 4:1 der Holländer gegen Bulgarien in der Vorrunde der WM gilt als der Tag, an dem der Totale Fußball geboren wurde. Das Finale mit der 1:2-Niederlage gegen die Deutschen müsste demnach der Tag sein, an dem er wieder gestorben ist. An diesem Tag siegte die Reaktion. Ihr Vorkämpfer war Berti Vogts, der im Endspiel den Freigeist Cruyff mit permanenter Manndeckung zur Bedeutungslosigkeit verdammte.

Raumdeckung

Günter Netzer hat vor kurzem noch einmal eindrücklich von Ernst Happel geschwärmt. Ein schwieriger Mensch, aber der beste Trainer, den er, Netzer, je erlebt habe. 1981 holte der ihn zum Hamburger SV, ein Jahr später wurde der HSV Deutscher Meister und 1983 gewann er sogar den Europapokal der Landesmeister. Fast noch wichtiger aber ist: Happel hat den deutschen Fußball in die Moderne geführt.

„Happel war der Erste in der Bundesliga, der mit Abseitsfalle gespielt hat, mit vorgezogener Abwehr, Pressing im Mittelfeld und Raumdeckung. In Gladbach hatten wir damals noch eine starre Grundordnung, in der für jeden Spieler eine Aufgabe fixiert war“, erinnert sich Jupp Heynckes, der zu Beginn der Achtziger noch ein Trainerneuling war. An Happel hat er sich damals orientiert: „Wenn er gegen mich gespielt hat, habe ich vorher sein System studiert. Ich habe alles aufgenommen und versucht, es zu analysieren.“

Pressing, Abseitsfalle, Raumdeckung – Happel hat das alles nicht erfunden; er hat Entwicklungen aufgegriffen, die bereits existierten, er hat sie weitergeführt und perfektioniert. Bis 1987 blieb Happel beim HSV; zum Abschluss gewann er noch einmal den DFB-Pokal. Es ist bis heute der letzte Titel der Hamburger.

Viererkette

Ralf Rangnick hat im vergangenen Jahr ein kleines Jubiläum gefeiert. Schon zehn Jahre ist es her, dass er den Deutschen im Aktuellen Sportstudio die Viererkette erklärte. Man könnte auch sagen: Erst zehn Jahre ist es her, dass die Deutschen noch sklavisch an den Libero glaubten. Selbst bei der EM 2000 spielte die Nationalmannschaft noch mit dem fast 40 Jahre alten Lothar Matthäus als freiem Mann hinter zwei Manndeckern.

Dabei gab es im deutschen Fußball zu jener Zeit bereits zarte Ansätze der Modernisierung. Bernd Krauss hatte schon 1994 bei Borussia Mönchengladbach die Viererkette eingeführt, als Erster in der Bundesliga. Als er seinen Manager Rolf Rüssmann vor der Saison davon in Kenntnis setzte, „fing der schon an zu schwitzen“, erinnert sich Krauss. „Das war vielleicht die mutigste Entscheidung meiner Trainerkarriere.“ Dabei war die Überlegung ganz einfach. Bei Rückständen hatten die Gladbacher immer schon den Libero ins Mittelfeld vorgezogen und hinten Mann gegen Mann verteidigt. „Warum machen wir das nicht direkt so?“, fragte sich Krauss. Trotzdem musste er den Spielern erst einmal die Angst nehmen – aber es funktionierte. Die Gladbacher, die in den Jahren zuvor in der Bundesliga 15., 9., 13., 9. und 10. geworden waren, beendeten die Saison auf Platz fünf und gewannen den DFB-Pokal.

Konterrevolution

Der Fußball der Neuzeit ist eine stete Abfolge offensiver und defensiver Strategien. Jeder Trend erzeugt einen Gegentrend, nie war das deutlicher zu sehen als bei der EM 2004: In einer vermeintlichen Hoch-Zeit der Offensive endete das Turnier mit dem vermutlich defensivsten Sieger aller Zeiten. Otto Rehhagel, der deutsche Trainer der Griechen, ließ seine Mannschaft mit Manndeckern und Libero spielen, es war ein Rückfall in vormoderne Zeiten, aber Rehhagels Mannschaft bezwang mit dieser Taktik in der K.-o.-Runde erst Titelverteidiger Frankreich, dann den großen Favoriten Tschechien und schließlich im Finale Gastgeber Portugal – jeweils mit 1:0.

Der Triumph der Griechen ist ausgiebig verspottet worden, „Mord am Fußball“, konstatierte die dänische Zeitung „B.T.“, die „Zeit“ entdeckte „eine Taktik wie aus dem Fußball-Paläolithikum“. Nur wenige, wie die spanische Zeitung „As“, würdigten Rehhagels Leistung: „Griechenland erfindet den Fußball neu und wird zu Recht Europameister.“ Rehhagel wirkte in der Tat stilbildend – und löste zugleich die Gegenbewegung aus: Die WM 2006 war noch vom Primat der Defensive bestimmt, schon bei der EM 2008 aber gewann mit Spanien die Mannschaft, die über die beste Offensivstrategie verfügte.

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