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Fußball-WM 2014: Zu Gast in den Favelas

Brasilien erschafft für die WM 2014 und Olympia 2016 ein neues Rio de Janeiro, lädt die Gäste ins Favela ein. Die Stadt arbeitet an Armensiedlungen zum Anfassen.

Zwischen Realität und Wunsch liegen nur ein paar Stockwerke: Während im riesigen Stadion Maracana von Rio de Janeiro die Bagger mit den ersten Arbeiten beginnen, präsentiert ein kleiner Plasma-Bildschirm in den Katakomben der legendären Fußball-Arena den Besuchern, wie die Zukunft einmal aussehen soll. Die Animationen, die über den Bildschirm flimmern, zeigen ein hoch modernes Stadionensemble mit grünem Ambiente, freien Zufahrtswegen und traumhaftem Komfort. Hier soll in ein paar Jahren des Herz der Welthauptstadt des Sports schlagen. Rio de Janeiro will als Gastgeber der Fußball-WM 2014 und der Olympischen Sommer-Spiele 2016 Geschichte schreiben, doch so richtig ist das WM- und Olympia-Fieber in der Stadt noch nicht ausgebrochen.

„Ich glaube, das war ein Fehler“, sagt Leandro Weißmann. Der 62-Jährige gehört zu den Rio-Skeptikern, obwohl er als Touristenführer sein Geld verdient. Jetzt steht er im Oberrang der mächtigen Arena und lässt seinen Blick über die verwaisten Tribünen schweifen. „Wir einfachen Leute werden von der WM und Olympia nichts haben, das Organisationskomitee sucht viele Tausend Freiwillige, die die Arbeit umsonst erledigen. Da wird nicht viel übrig bleiben“, sagt Weißmann. Überhaupt traut er der Stadt die Ausrichtung solcher globalen Events nicht zu. „Wir haben doch jetzt schon riesige Staus und viel zu wenige Hotelbetten.“

Sergio Castro, 33, ist anderer Meinung. Auch er verdient sein Geld damit, Touristen durch Rio zu führen. Doch seine Tour zeigt nicht das Rio, das sein Kollege Weißmann den Menschen seit Jahrzehnten näher bringt. Seine Stadt besteht nicht nur aus Zuckerhut, Copacabana und Christus-Statue. Castros Stadt ist ein Vorgriff auf das neue Rio, wie es 2014 und 2016 werden soll. Seine „Rio Top Tour“ führt hinein in eines der berüchtigten Armenviertel. Mit seinen Gästen fährt er im offenen Jeep vorbei an der Strandpromenade der Copacabana. Zumindest hier gibt es so etwas wie Vorfreude. Künstler haben kleine Stadien aus Sand gebaut und bitten die vorbeigehenden Touristen um eine Spende. Während der Fußball-WM sollen hier riesige Hotelschiffe anlegen.

Brasiliens scheidender Staatspräsident Luiz Inacio Lula da Silva hat ein Favela-Projekt ins Leben gerufen, mit dem er der Welt den Besuch dieser bislang gemiedenen Schauplätze schmackhaft machen will. „Favelas sind ganz normale Stadtviertel wie andere auch“, ließ der Präsident während einer kleinen Eröffnungszeremonie vor wenigen Wochen wissen und ließ sich bereitwillig mit Einwohnern des Slums ablichten. Santa Marta galt als eine der gewalttätigsten Favelas in Rio.

Hier lieferten sich Jugendgangs blutige Machtkämpfe um die Vorherrschaft im Viertel. Schmale wie steile Treppen führen die Besucher nach unten. Mit jedem Schritt löst sich die Anspannung, nach jeder gemeisterten Treppenstufe wächst der Wohlfühlfaktor. Denn Santa Marta ist mittlerweile eine Vorzeige-Favela, eine Armensiedlung zum Anfassen.

Das Pilotprojekt soll vier Jahre vor der WM und sechs Jahre vor Olympia helfen, den Gästen die angesichts der Gewaltausbrüche in der Vergangenheit keineswegs unbegründeten Berührungsängste vor den Slums zu nehmen. Bunte Hinweisschilder führen die Touristen nun zu den interessanten Plätzen, so zum Beispiel zum „Espaco Michael Jackson“, wo der Sänger 1996 den Clip zum Song „They don’t care about us“ drehte und die Favela-Besucher als Komparsen dienten. Jackos Besuch war wohl der Hauptgrund, warum Rio sich für Santa Marta als Ort des sozialen Experiments entschied.

Aber bis WM-Touristen und Olympia-Gäste tatsächlich sorglos durch Rio spazieren können, ist noch eine Menge Arbeit zu leisten. Die meisten WM-Stadien sind bestenfalls Baustellen, selbst die Politiker sind skeptisch, dass Rios Infrastruktur ausreichen wird, um die Aufgaben zu stemmen: „Die Flughäfen sind das Hauptrisiko für 2014“, sagt Sportminister Orlando Silva. Von der neu gewählten Staatspräsidentin Dilma Rousseff wird erwartet, dass sie gleich zu Beginn ihrer Amtszeit im neuen Jahr die Vorbereitungen auf die Großereignisse zur Chefsache macht.

Bis dahin üben sich Brasiliens Sportfunktionäre darin, die Welt zu beschwichtigen: „Ich kann der Sport-Gemeinschaft versichern, dass in Rio de Janeiro die notwendige Normalität herrschen wird, um den Confederations Cup 2013 und das große Fest der WM 2014 auszurichten“, verspricht der allmächtige und unter Korruptionsvorwürfen stehende Präsident des nationalen Fußballverbandes CBF, Ricardo Teixeira. Der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, Carlos Nuzman, pflichtet ihm bei: „Wir unterstreichen das völlige Vertrauen in das Projekt der Befriedung in Rio de Janeiro.“

Rund um das wegen Renovierung geschlossene, legendäre Maracana-Stadion liegen zahlreiche Armenviertel, die in der Vergangenheit immer wieder Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen waren. Ausgerechnet hier soll das WM-Endspiel 2014 ausgetragen und die Olympischen Spiele 2016 eröffnet werden. Deswegen planen die Behörden weitere „Befriedungsmaßnahmen“. Touristenführer Sergio Castro weiß, was das bedeutet: „Die Drogenbosse erhalten ein Ultimatum. Verlassen sie die Favelas nicht, dann kommen die Spezialeinheiten in das Viertel und räumen auf.“ Fast immer gibt es dabei Tote, fast immer geraten Unschuldige zwischen die Fronten. Menschenrechtler sind entsetzt, die Mehrheit der Brasilianer klatscht dagegen Beifall. „Wir müssen versuchen, diesen Krieg zu gewinnen“, sagt Castro. „Wir müssen der Drogenmafia auf allen Ebenen begegnen und vor allem den armen Menschen eine Perspektive geben. Dann werden wir die beste WM und das beste Olympia aller Zeiten erleben.“ Der junge Mann ist davon überzeugt. Ebenso sicher ist allerdings auch, dass es für das neue Rio bis zum ersten Anpfiff der WM 2014 noch viel Blutvergießen geben wird.

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