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Genussmenschen. Den Engländern Kane (l.), Sterling (M.) und Henderson schmeckt’s gegen Panama besonders.

© AFP

Fußball-WM 2018: Englands Nationalmannschaft erfindet sich neu

England schießt gegen Panama in 45 Minuten fünf Tore und zieht nach dem 6:1 ins Achtelfinale ein. Der Erfolg basiert vor allem auf einigen atmosphärischen Veränderungen.

Eigentlich hätte Raheem Sterling gegen Panama nicht in der Startelf stehen sollen. Zumindest wiesen diverse Indizien darauf hin. Zu Beginn dieser zweiten Woche wurde zum Beispiel Englands Co-Trainer Steve Holland mit einem Zettel in der Hand fotografiert, auf dem die Aufstellung gegen Panama stand. Die große Überraschung: Der Name Sterling befand sich nicht auf diesem Zettel, dafür jener von Marcus Rashford, Sterlings potenziellem Sturmersatz.

Vielen Engländern hat das ausgesprochen gut gepasst. Sterling ist so etwas wie der Mesut Özil der Three Lions. Im Nationaltrikot werde er seinem großen Talent nie gerecht, sagen viele. Die Boulevardpresse schreibt ihm permanent charakterliche Defizite zu, manchmal mit leicht rassistischem Unterton. Nach einer weiteren mäßigen Leistung gegen Tunesien verlangten Sterlings Kritiker jedenfalls wieder, dass doch besser Rashford für ihn spielen solle.

Der englische Trainer, Gareth Southgate, hat gegen Panama aber wieder auf seinen umstrittenen Angreifer gesetzt. Auch gegen Panama stand Sterling neben Harry Kane in der englischen Doppelspitze – was sich bereits in der ersten Halbzeit auszahlte. Sterling legte den Ball gekonnt für Jesse Lingard ab, der ihn dann mit viel Feingefühl ins obere Eck zum 3:0 zirkelte. Ein Tor, das dieses Spiel zugleich perfekt beschrieb. 6:1 siegten die Engländer gegen Panama, fünf Tore schossen sie in den ersten 45 Minuten. Das Achtelfinale ist nach dieser Galavorstellung gebucht.

Berauschende erste Halbzeit

„Schade ist nur, dass Raheem selbst kein Tor geschossen hat“, sagte Ex-Nationalspieler Alan Shearer in der BBC direkt nach dem Spiel. „Aber das ist auch das einzig schlechte an heute.“ Dass die Engländer derart dominieren würden, war nicht abzusehen gewesen, vielmehr kämpften sie (wieder mal) mit hausgemachten Problemen. Mittelfeldregisseur Dele Alli fehlte verletzt, zudem war die Aufstellung frühzeitig an die Presse durchgesickert. Dazu die Sache mit dem unbeliebten Sterling. Unter normalen Bedingungen hätte eine solche Woche für schlechte Stimmung gesorgt, zumal sich Trainer Southgate beim Joggen auch noch an der Schulter verletzte. Während sich Jogi Löw beim Joggen am Strand Masterpläne ausdenkt, schafft es Southgate im Wald zu stolpern und im Krankenhaus zu landen. Typisch England eben. Viel Wirbel, viele Probleme, kein Erfolg.

Dieses Mal scheint aber einiges anders. Die Nebengeräusche scheinen Englands Kicker schlicht zu ignorieren, stattdessen geben sie die Antwort auf dem Platz. Zeugnis dessen war eine berauschende erste Halbzeit gegen Panama. Fünf Tore hatte England bislang noch nie zuvor in einem Turnierspiel geschafft, diesmal reichte eine Hälfte. „Wir sind an der Spitze der Gruppe, wir sind an der Spitze der Welt!“, titelte die Daily Mail.

Southgate hat den Geist gebannt

„Man muss ja dran glauben, wenn man etwas im Leben erreichen will“, sagte Harry Kane der BBC nach dem Schlusspfiff. Ihm hat sicherlich kein Selbstvertrauen gefehlt, als er in der ersten Halbzeit zwei Elfmeter wuchtig ins linke Eck ballerte und sich an die Spitze der Torjägerliste schoss.

So schlecht Panama auch war – England spielte so gut wie lange nicht mehr. Die Standardsituationen wurden perfekt ausgeführt, aus dem Spiel heraus kombinierte sich die Elf clever zu vielen Chancen. Vor allem spielte das Southgate-Team mit einem Mix aus wunderbarer Lockerheit und echter Freude. Als John Stones in der achten Minute seine Mannschaft in Führung köpftelte, jubelten die Spieler so, als sei der Halbfinaleinzug sichergestellt worden. Oder wie Kane sagt: „Wir genießen es einfach.“

Der neue Genuss am Spiel ist vor allem Southgates Verdienst. „Es gibt diese Wahrnehmung, dass England immer sehr erfolgreich war, aber eigentlich stimmt das nicht“, sagte er vor dem Spiel. Sein Vorgänger Fabio Capello hat diese Wahrnehmung, die den Erfolg von 1966 als Maßstab setzt, einst als „Geist“ beschrieben, in dessen „weißen Tentakeln“ die Engländer immer erstickten, sobald sie zu einem Turnier reisen. Southgate hat es offenbar geschafft, den Geist zu bannen.

Besseres Verhältnis zur Presse

Gelungen ist ihm dies, weil der Trainer ein besseres Verhältnis zur Presse anstrebt. Vor dem Turnier veranstaltete der englische Verband zum ersten Mal seit Jahrzehnten eine offene Presserunde mit allen englischen Spielern. Das kam bei den Journalisten gut an. Im Gegenzug zeigen sie der Mannschaft und Soutgate gegenüber etwas mehr Gnade als sonst üblich.

In Summe hat der Trainer eine Mannschaft geformt, die befreit und fokussiert zugleich aufspielen kann – wie gegen Panama. „Es kommt nicht oft vor, dass wir völlig entspannt sein können, während wir England bei einer WM zuschauen“, witzelte Gary Lineker bei BBC. Aber bislang ist dies eben keine normale WM – und keine typisch englische Mannschaft.

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