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Keine Chance. Und trotzdem feiern die Fans aus Panama ihre Mannschaft.

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Fußball-WM 2018 in Russland: Panamas Premiere: Ein Tor mehr als Messi

Fans aus Panama verkauften Autos oder lösten Lebensversicherungen auf, um zur WM nach Russland zu reisen. Der Lohn für den WM-Debütanten: ein Wunder.

Ein Freistoß in der 78. Minute. Der Ball segelt von links in den Strafraum, Felipe Baloy springt, streckt sein rechtes Bein nach vorne, und dann ist alles erleuchtet. Menschen in roten Trikots liegen sich in den Armen, die Kameras gehen ganz nah ran an die Fans auf den Tribünen, einige haben Tränen in den Augen. Dabei hat Baloy nicht etwa den Siegtreffer gegen England geschossen, er hat nicht mal den Ausgleich gemacht. Baloy hat zwölf Minuten vor Abpfiff das Tor zum 1:6 erzielt.

Ein Ehrentreffer, sagt man normalerweise. Aber ist das ein Ehrentreffer? Für Panama bedeutet das Tor viel mehr. Es ist ein historischer Moment. Panamas erstes WM-Tor bei der ersten WM-Teilnahme. Ein Land, das so groß ist wie Bayern. Eine Mannschaft, deren Spieler in amerikanischen MLS-Klubs aktiv sind oder in der Slowakei. Und Fans, die fast 12 000 Kilometer gereist sind, um dieses Team spielen zu sehen. Hat es sich gelohnt?

„Ein Tor! Nur ein einziges Tor, dann wäre ich der glücklichste Mensch der Welt.“ Schon einen Tag vor dem Spiel gegen England haben die Fans eher kleine Träume. Laura sitzt im Zug von Moskau nach Nischni Nowgorod. Es ist 6:45 Uhr am Morgen. Sie erzählt von dem ersten Spiel gegen Belgien, 0:3, da habe man schon gemerkt, dass diese Gruppe eine Nummer zu groß ist.

Sie stammt aus Panama City, lebt aber inzwischen in der Nähe von Los Angeles. Wie viele Panamaer ist sie mit ihrer halben Familie unterwegs. Der Cousin ist dabei, ihre Mutter, ihr Mann. Wobei, ihr Mann ist Mexikaner und unterstützt deswegen El Tri. Er ist auf einer anderen Route durch Russland unterwegs. „Eigentlich bescheuert, oder?“, sagt Laura. „Wir sehen uns nur ab und zu in Moskau.“

Panamas Weg zur WM: Zwischen Sensation und Drama

Die WM-Qualifikation Panamas war eine Sensation, aber sie war vor allem ein Drama. Am vorletzten Spieltag hatte das US-Team Panama mit 4:0 nach Hause geschickt. Es war ein großer Schock, denn Panama hätte sich bei dieser Partie für die WM qualifizieren können. Und nun stand das Team wieder kurz vor dem Aus. Im letzten Spiel gegen Costa Rica zählte nichts anderes als ein Sieg. Und dann begann das große Zittern. Costa Rica ging vor der Halbzeit in Führung. Die Wende kam am Ende der zweiten Hälfte. Blas Perez’ Sitzkopfball zum 1:1 war nicht drin, aber der Schiedsrichter entschied trotzdem auf Tor. Ein Phantomtor, ein gol fantasma. In der 88. Minute schoss Roman Torres das 2:1. Die Fans feierten eine Woche lang.

Wenn man die Panamaer in Nischni Nowgorod fragt, ob sie dabei waren bei dem Wunder im Estadio Rommel Fernandez, antworten ausnahmslos alle: „Claro, que si!“ Na klar! „Es war wie die Geburt eines Kindes“, sagt Mauricio. „2014 hatten wir so viel Pech, diesmal hatten wir mal Glück.“ 2014, auf dem Weg nach Brasilien, schied Panama aus, weil es am letzten Spieltag der Qualifikation gegen die USA 2:3 verlor. Dabei hatte das Team bis zur 91. Minute noch 2:1 geführt.

Mauricio ist 35 und arbeitet für einen Sportartikelhersteller. Er wartet auf den Einlass ins Nischni-Nowgorod-Stadion. Was, wenn Panama auch heute verliert? „Es hätte sich trotzdem gelohnt“, sagt er. „Denn jetzt weiß ich: Es stimmt nicht alles, was man uns erzählt.“ Er meint die Berichterstattung über Russland, die Hysterie vor dem Turnier. Zumindest jetzt, in der WM-Zeit, scheint doch alles okay zu sein. Die Leute, das Wetter, das Essen. „Panama schaut stark in Richtung USA, und dort erzählen sie uns seit Jahrzehnten, dass in Russland niemand lacht und alle böse sind.“ Er wischt sich den Schweiß von der Stirn. Die Aufregung? Oder doch die Hitze? Es sind 35 Grad in Nischni Nowgorod, mittelamerikanische Temperaturen. Auch Mauricio hofft wenigstens auf ein einziges Tor.

Ratlos. Sechs Tore gegen England kassiert - und doch eines geschossen. Das erste WM-Tor der Geschichte Panamas.
Ratlos. Sechs Tore gegen England kassiert - und doch eines geschossen. Das erste WM-Tor der Geschichte Panamas.

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Im Medienzentrum betritt Jesus Santizo die Bühne. Er ist Moderator und eine Kultfigur im panamaischen Fernsehen. Bei dieser Weltmeisterschaft trägt er einen Anzug, der in der Flagge Panamas gehalten ist. Dazu Goldkette, Goldringe, weiße Krawatte. „Mein Chef sagte, dieses Outfit ist eine gute Idee für die erste WM. Und was soll ich sagen? Ich liebe den Anzug.“ Dann eilt er mit seinem Team durch den Pressebereich, die ausländischen Kollegen staunen.

Wie sähe es wohl aus, wenn Bela Rethy mit so einem Anzug moderieren würde? Santizo ist schon hinter der nächsten Ecke verschwunden. Er zählt noch ein paar Namen von Spielern auf, die ihm Hoffnung machen. Dann ruft er: „Wenn wir ein Tor schießen, kannst du den Jubel aus Panama City bis hier hören.“

Panama ist, im Gegensatz zu anderen mittelamerikanischen Ländern, kein Fußballland. Baseball ist die Nationalsportart. Dementsprechend überschaubar ist die Geschichte der Fußballnationalelf. Der größte Erfolg sind zwei zweite Plätze beim Concacaf Gold Cup und der Titel bei der Zentralamerika-Meisterschaft 2009. Aber vielleicht ist diesmal eine Überraschung drin. Das haben ja auch andere Teams aus Mittelamerika geschafft.

Aber England hat kein Mitleid, drei, vier, fünf Tore vor der Pause. Harry Kane zimmert seine Elfmeter in den Winkel, als wollte er das Tor aus den Angeln heben. Null zu sechs. Und dann kommt Felipe Baloy.

Fangruppe La Legion begleitet die Nationalmannschaft überall hin

Nach dem Spiel wartet Luz vor dem Stadion und versucht, ihre Stimme wiederzufinden. 90 Minuten hat sie gesungen, getanzt, geschrien. „Es ist traurig“, krächzt sie heiser. „Aber wir feiern trotzdem, das Tor war doch toll.“ Luz ist Mitglied von La Legion, einer 46-köpfigen Fangruppe. Sie machen die Stimmung auf der Tribüne, sie haben Trommeln, Fahnen und Tröten. Sie sind immer da, auswärts, zu Hause, ganz egal, wo ihr Team spielt.

Ihr Quartier haben sie in der Stadt Wladimir aufgeschlagen, die auf halbem Weg zwischen Moskau und Nischni Nowgorod liegt. Von dort aus fahren sie mit der Bahn zu den Spielorten. Das nächste Spiel findet in Saransk statt, 500 Kilometer, 22 Stunden Zugfahrt. Als würden sie einmal durch Panama reisen. „Es ist alles sehr groß hier“, sagt Luz. „Und Bahnfahren sind wir nicht gewohnt. Wir haben in Panama gar keine Züge.“ Aber das sei alles schon okay, für diese Mannschaft und dieses Tor würden sie alles tun.

Einer aus der Gruppe hat sein Auto verkauft, um sich die Reise leisten zu können. Andere haben sich ihre Rente vorzeitig auszahlen lassen oder ihre Lebensversicherungen aufgelöst. Luz ist Beamtin in der nationalen Sportadministration, auch sie hat lange gespart. Aber immerhin hat sie überhaupt einen Job, der es ihr ermöglicht, Geld zur Seite zu legen. „Die vielen armen Menschen können sich die Reise natürlich nicht leisten, und das ist schade, denn sonst wären wir viel mehr“, sagt sie. „Hier sind fast nur Leute aus der Ober- und Mittelschicht.“

Ein paar hundert Meter weiter entsteht plötzlich eine Party. Ein paar hundert Engländer und Panamaer feiern auf einem Platz zwischen Stadion und Shuttle-Bus-Station. Man kann sehen, wie unterschiedlich die Fankulturen sind. Die Engländer hängen sorgfältig ihre Fahnen an die Zäune, Blackpool, Leicester, Queens Park. Sie ziehen ihre Trikots und T-Shirts aus, jetzt ist es an der Zeit, die halbfertigen Three-Lions-Tattoos auf dem Rücken oder dem Oberarm zu präsentieren. Dazu gibt es Bier und Punkrock.

Panama - das kleine Kind im großen Fußballgeschäft

Direkt daneben haben sich die Panamaer um einen Grill geschart, große Steaks, dazu HipHop und R&B-Musik aus einer mobilen Soundanlage. Die russischen Polizisten sehen etwas ratlos aus. Sie stehen am Rand, und fragen sich vermutlich: Dürfen die das? Gehört das zum offiziellen Fifa-Fest? Was würde Putin tun?

Ungefähr zu diesem Zeitpunkt findet die Pressekonferenz im Stadion statt. Hernan Gomez, Trainer von Panama, sagt ein paar Worte zu den vorangegangenen 90 Minuten. Auch er spricht kaum über die Niederlage: Eins zu sechs, zwischenzeitlich bestand die Sorge, dass es zweistellig werden könnte. Aber Gomez sagt: „Das erste Tor bei einer WM ist einfach schön. Wir haben hier viel gelernt, meine Mannschaft ist noch ein kleines Kind im Fußball.“

Und die kleinen Kinder tanzen jetzt. Sie tanzen bis zum Morgen weiter. 5000 Panamaer in Nischni Nowgorod. Ihr Lieblingsgesang ist eine Verneigung vor Felipe Baloy, dem Torschützen. 102 Länderspiele hat er gemacht, seit 2001 ist er dabei. Seine große Zeit hatte er in Mexiko Mitte der Nullerjahre, Meister mit Monterrey, Meister mit Santos Laguna. Er ist mittlerweile 37 Jahre, nach der WM wird er aufhören.

Das wissen sie alle hier, und deshalb verabschieden sie ihn. Sie singen: „Uno mas que Messi.“ Ein Tor mehr als Messi.

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