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Der Mann mit dem Überblick. Bundestrainer Joachim Löw hat sich auch von den vielen Ausfällen nicht aus der Ruhe bringen lassen und geht zuversichtlich ins erste WM-Spiel gegen Australien. Foto: dpa

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Deutschland offensiv: Löws Strategie: Vorwärts immer!

Joachim Löw legt sich mehrere Strategien für die deutsche Elf zurecht, hat Tagesspiegel-WM-Reporter Michael Rosentritt beobachtet. Egal ob im 4-3-3 oder im 4-5-1, eines ist klar: Das Team soll offensiv spielen.

Der Aufschrei war groß. Als Christian Träsch in Südtirol vom Trainingsplatz humpelte und wenig später für die Weltmeisterschaft absagen musste, musste man sich Sorgen um das deutsche Mittelfeld machen. Selbst die englische „Sunday Times“ fühlte sich bemüßigt, von „German Chaos“ in der Nationalelf zu fabulieren – dabei dürfte der Name Christian Träsch nur den allerwenigsten „Times“-Lesern etwas sagen. Bedeutsamer als der Name war aber, dass der 22-jährige Stuttgarter als Back-up für Sami Khedira galt, der zwar auch nicht viel bekannter ist, aber den Deutschen ihren Michael Ballack zu ersetzen hat bei der WM, die für sie morgen mit dem Spiel gegen Australien beginnt. Im Grunde war Träsch der fünfte Spieler, der für die bedeutende Position des zentralen, defensiven Mittelfeldspielers ausgefallen ist. Und dann bog Hansi Flick um die Ecke und warnte die Engländer, die möglicherweise im Achtelfinale auf die Deutschen treffen könnten.

„Wir sind doch bekannt für unsere Wenn-dann-Strategien“, sagte der Assistent von Bundestrainer Joachim Löw und schmunzelte dabei: „Wir wissen genau, wie wir zu reagieren haben. Wir haben einen großen Kader und können damit umgehen.“

Trotz der vielen kleinen „Schocks“, die jeder einzelne Ausfall laut Löw auslöste, geht sein Team zuversichtlich in das Turnier. „Wir haben keine Angst, sondern wir wollen spielerisch die Gegner in Verlegenheit bringen.“ Der Bundestrainer geht mit „einem guten Gefühl“ an den Start. Sein Gefühl basiert auf der Gewissheit, dass sein Team „lernwillig“ ist und sich inzwischen relativ stilsicher unterschiedlicher Systeme zu bedienen weiß.

Grundsätzlich gibt es für das deutsche WM-Team zwei Typen von Systemen, das offensivere 4-3-3 und das leicht defensivere 4-5-1-System. Letzteres wird auch gegen Australien zum Einsatz kommen. Als Basissystem aber dient das 4-4-2, das auch in seiner Urform „sehr wichtig für uns bleibt“, wie Löw sagt.

In der Urform, also dem 4-4-2, sollen die Außenverteidiger nicht nur die Defensive stabilisieren, sondern bei Ballbesitz über die Außenbahn das Spiel nach vorn tragen. Dieses System kann man als flache Vier verstehen, also mit vier Mittelfeldspielern, die auf einer Linie agieren. Wenn beide Viererreihen eng stehen, ist man schwer verwundbar. Der Haken dieser Ausrichtung könnte sein, den Ball nach vorn zu bringen, weil es zu wenige Anspielpunkte in der gegnerischen Hälfte gibt. Erst wenn sich das Vierer-Mittelfeld als Raute positioniert, geht es besser. Bremen wurde so 2004 Meister. Dabei behalten die äußeren Mittelfeldspieler ihre Position, von den beiden zentralen wird einer offensiv, also in der Spielmacherposition hinter den Spitzen. Der andere bleibt defensiv und agiert als klassischer Sechser.

Das 4-4-2 lässt sich aber auch zum offensiven 4-3-3 umstellen, was dann gespielt wird, wenn man zwei trickreiche und flankenstarke Offensivkräfte hat, die als Außenstürmer fungieren. Im Zentrum stünde dann ein kopfballstarker oder wendiger Mittelstürmer. Der FC Barcelona spielt seit Jahren so, mittlerweile auch der FC Bayern.

Aus diesem 4-3-3-System kann leicht ein 4-5-1 werden. Als die Italiener 2006 Weltmeister wurden, spielten sie ein 4-5-1-System mit nur einem Stoßstürmer und Francesco Totti als Grenzgänger zwischen Mittelfeld und Angriff dahinter. Auch Finalgegner Frankreich trat in dieser taktischen Grundausrichtung an. Seitdem ist das 4-5-1 so etwas wie das herrschende System des Weltfußballs. Bei der EM 2008 traten mehr als die Hälfte der Mannschaften so an.

Beim 4-5-1, dass jetzt auch von der Löw-Elf bevorzugt wird, geht es darum, die Kontrolle im Mittelfeld zu erringen, um so Kompaktheit und Dominanz zu erlangen. Durch die fünf Mittelfeldspieler lässt sich in fast jeder Situation eine Überzahl in Ballnähe erzeugen. Die beiden äußeren Mittelfeldspieler werden bei gegnerischem Ballbesitz zu Verteidigern, bei eigenem Ballbesitz zu Flügelstürmern.

Dieses System wird vom deutschen Team als 4-2-3-1 interpretiert. Vor der Abwehr spielen zwei zentrale, defensive Mittelfeldspieler (Doppelsechs). Einer der beiden orientiert sich mehr in die Offensive (Khedira), während der zweite mehr für defensive Aufgaben (Bastian Schweinsteiger) vorgesehen ist. Muss die Mannschaft verteidigen, kann jeder der beiden defensiven Mittelfeldspieler mit jeweils zwei Verteidigern der Viererkette ein Dreieck bilden, sodass eine Überzahlsituation im Bereich vor dem Strafraum entsteht. So kann der ballführende Spieler der gegnerischen Mannschaft von mehreren Spielern bedrängt werden.

Gestern hatten Löw und Flick gleich zwei Videositzungen anberaumt, um noch einmal Spielzüge zu vertiefen. „Es gibt noch zwei, drei Positionen, wo wir uns Gedanken machen“, hat Flick gesagt. Das System jedoch steht. Bei der gewählten 4-2-3-1-Kreation ist das Team auf schnelle Außenspieler (Podolski auf links, und Müller oder Marin auf rechts) sowie einen flexiblen offensiven Mittelfeldakteur (Özil) angewiesen, damit der Ball aus der Defensive schnell in den Angriff getragen werden kann. Im offensiven Mittelfeld spielen drei Spieler auf einer Höhe, welche abwechselnd mit in die Spitze aufrücken. Dies bringt den Gegner in Zuordnungsschwierigkeiten.

„Die Australier sind stark, sie haben in der Defensive eine fast perfekte Organisation“, sagt Löw. Daher bietet es sich an, auf wendige Spieler im offensiven Bereich zu setzen: Spieler, die mit viel Tempo auf den Gegner zulaufen, das Dribbling suchen und sich so Vorteile verschaffen. Solche Spielertypen können mit dem Ball idealerweise mehr erreichen als Pässe, da Passwege relativ leicht zugestellt werden können. „Ich denke, wir sind technisch stärker als die Australier“, sagt Philipp Lahm, „wir wollen gewinnen, damit wir Sicherheit bekommen, also noch mehr, als wir jetzt schon haben.“ Was wohl die Engländer davon halten?

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