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Argentinien im Blick, Finale im Sinn. Das Viertelfinale ist für Joachim Löw das 54. Länderspiel, seit er 2006 die Nationalelf übernahm. Seine Bilanz: 37 Siege, 7 Unentschieden, 8 Niederlagen.

© dpa

Joachim Löw im Interview: "Argentinien spielt am Rande der Legalität"

Vor dem Viertelfinale spricht Joachim Löw mit Tagesspiegel-WM-Reporter Michael Rosentritt über seine Lust an der Anspannung, ästhetischen Fußball und das Verbot, mit ihm über seine Zukunft als Bundestrainer zu reden.

TAGESSPIEGEL: Herr Löw, Bastian Schweinsteiger hat das Spiel gegen Argentinien verbal angeheizt. Gab es dafür einen Rüffel von Ihnen?

JOACHIM LÖW: Nein, weil ich das gar nicht verfolgt habe. Vor so einem Spiel, bei dem es immer hitzige Debatten gibt, interessiert mich das auch nicht weiter. Das ist ein verbales Kräftemessen.

TAGESSPIEGEL: Ist er nicht übers Ziel hinausgeschossen?

JOACHIM LÖW: Vom Grundsatz hat Bastian sicher Recht: Die Argentinier spielen am Rande der Legalität, was ihren körperlichen Einsatz betrifft. Das ist diese Mannschaft, bei der sich unglaubliche individuelle Qualität und Technik mit ausgesprochen hoher körperlicher Robustheit mischt. Das ist wohl die Gaucho-Mentalität. Sie lieben dieses Mann gegen Mann, um zu beweisen, dass sie auch im Körperlichen den anderen überlegen sind. Das spielen sie gerne aus. Dabei kommt es manchmal zu Provokationen. Nichts anderes hat Bastian Schweinsteiger gemeint.

TAGESSPIEGEL: Dann muss dieses Spiel ganz nach Ihrem Geschmack sein. Sie sagen selbst von sich, dass Sie ein Kampftrainer sind.

JOACHIM LÖW: Habe ich das gesagt? Oh nein, ich habe gesagt: Wettkampftrainer. Vor allem bin ich ein ästhetischer Trainer, der guten Fußball sehen will, der Fußballkultur mag und über Kampf und Einsatz nur am Rande spricht. Wenn ich das schon tue, definiere ich genau, was ich mit Kampf meine. Das heißt dann eben nicht, dass man blind anrennt oder den Gegner aggressiv bekämpft. Da habe ich schon noch eine andere Vorstellung. Als Wettkampftrainer liebe ich entscheidende Spiele. Ich liebe es, wenn die Anspannung hoch ist.

TAGESSPIEGEL: Ist der Ästhet in Ihnen nicht enttäuscht, wenn er sieht, wie stark doch die Defensive im Vordergrund steht bei dieser WM?

JOACHIM LÖW: Enttäuscht? Nein. Aber es gab Mannschaften, die haben mich enttäuscht, wie Italien und Frankreich, weil sie vielleicht über ihren Zenit hinweg waren. Italien war nicht in der Lage, Tempofußball zu spielen. Das muss man heute können, wenn man auf hohem Niveau bestehen will.

TAGESSPIEGEL: Aber wo bleibt die Schönheit? Oder ist sie einfach nicht mehr so leicht zu erkennen?

JOACHIM LÖW: Die Spanier spielen offensiv überragend gut, dort sieht man, dass das auch so gewollt ist. Aber vielleicht wird nicht mehr so spektakulär gespielt. Trotzdem sind jetzt noch Mannschaften im Turnier, die eine gute Spielanlage haben.

TAGESSPIEGEL: Gibt es auch eine Ästhetik der Defensive?

JOACHIM LÖW: Wenn man so will, ja, die gibt es auch.

TAGESSPIEGEL: Sie klingen nicht so begeistert.

JOACHIM LÖW: Doch, doch. Ein gutes Zweikampfverhalten ist sehr ästhetisch. Wir haben gegen England viele Bälle gewonnen, ohne Foul zu spielen. Das ist die hohe Kunst, die Ästhetik der Defensive.

TAGESSPIEGEL: Abwehrspieler Jerome Boateng hat ganz stolz erzählt, dass er kein einziges Mal gegrätscht hat. Das ist ein Kompliment für Sie?

JOACHIM LÖW: Ja, für ihn. Wir haben es ihm ja absolut verboten.

TAGESSPIEGEL: Sie sind als Taktiktüftler bekannt. Wie gehen bei Ihnen Taktik und Ästhetik zusammen?

JOACHIM LÖW: Beides hängt im starken Maß zusammen. Spielkultur ist ohne Ordnung und Organisation nicht möglich. Man muss eine klare Strategie haben, wenn man offensiv spielen will. Sonst ist es ein völliges Durcheinander und endet im Chaos. Also: ohne Ordnung keine Kreativität!

TAGESSPIEGEL: Tüfteln Sie hier wirklich bis tief in die Nacht an Taktiken? Darüber, wie man Messi stoppen kann?

JOACHIM LÖW: Was haben Sie für Vorstellungen? Die Spielvorbereitungen verlaufen immer ganz ähnlich. Wir bereiten uns auf Zypern genauso seriös vor wie auf Argentinien. Vielleicht nicht mit der Anspannung direkt vor dem Spiel. Aber ich freue mich auf solche Spiele wie gegen England: Das Stadion ist voll, die Menschen fiebern einem Klassiker entgegen. Für mich sind diese Spiele natürlich reizvoller als ein Freundschaftsspiel. Bei der WM hier schaut ganz Deutschland zu, Europa, ja die ganze Welt. Das fordert mich heraus. Ich kann es auch nicht anders erklären.

TAGESSPIEGEL: Sie haben eine Mannschaft geformt, die mitreißend spielen kann. Wie passt Michael Ballack künftig in dieses Gefüge?

JOACHIM LÖW: Eine Erkenntnis dieser WM ist, dass der Altersschnitt der Mannschaft relativ niedrig sein muss. Diese Spieler sind noch entwicklungsfähig, lernwillig und vor allem hoch belastbar. Wir haben nach einer langen Saison intensiv trainiert, mehrere Wochen lang. Das ist gar nicht einfach, die Intensität noch einmal zu steigern. Da brauchst du eine hohe Regenerationsfähigkeit, die junge Spieler nun mal eher haben.

TAGESSPIEGEL: Ist Michael Ballack vielleicht zu reif für diese Mannschaft?

JOACHIM LÖW: Ich denke, der Altersdurchschnitt muss relativ niedrig gehalten sein. Eine solche Mannschaft verspricht mehr Erfolg. Wenn die Qualität stimmt! Das ist nun mal die Grundvoraussetzung. Aber natürlich braucht man erfahrene Spieler. Das darf man nicht unterschätzen. Einen Michael Ballack zum Beispiel. Aber: Qualität ist das Wichtigste, dann hohe Belastbarkeit und die Fähigkeit, diesen Siegeswillen zu entwickeln. Das alles geht vor Erfahrung, eindeutig. Italiens Team hatte viel Erfahrung, aber nicht mehr diesen Biss. Und es konnte nicht mehr dieses Tempo spielen, um weit zu kommen.

TAGESSPIEGEL: Frühere Bundestrainer mussten lediglich eine Vielzahl von guten Spielern aufeinander abstimmen; bei Ihnen aber hat man den Eindruck, dass Sie den Spieler wirklich etwas beibringen.

JOACHIM LÖW: Oh, die Spieler, die wir ausgesucht haben, verfügen über gute Grundvoraussetzungen. Sie können daher schnell lernen. Vielleicht ist es ja eine Leistung von uns Trainern, dass wir sie von dem, was wir wollen, überzeugt haben; dass die Spieler das in sich tragen und einen Sinn darin sehen. Sie sehen, wenn sie das umsetzen, bringt es Erfolgserlebnisse mit sich.

TAGESSPIEGEL: Können Sie sich eigentlich noch vorstellen, als Vereinstrainer zu arbeiten? Sie haben einmal gesagt, dass es das Ziel eines Vereins sein muss, eine Spielphilosophie zu entwickeln, mit der sich Fans identifizieren können. Nur hatten Sie als Vereinstrainer nie die Zeit dafür.

JOACHIM LÖW: Doch, die hatte ich. Selbst wenn es nur ein Jahr war, ist das schon viel Zeit im Vergleich zur Nationalmannschaft, wo man nur sporadisch zusammenkommt. Als Vereinstrainer hat man einen enormen Vorteil. Außerdem ist es viel schwieriger, eine Nationalmannschaft über Jahre auf ein hohes Niveau zu bringen, als wenn man den FC Barcelona oder Bayern München trainiert. Denn die Nationalmannschaft hat lange Pausen.

TAGESSPIEGEL: Aber es gibt doch keinen schöneren Beruf als den des Bundestrainers, oder Herr Löw?

JOACHIM LÖW: Nationaltrainer zu sein ist etwas Besonders, aber es gab auch schon Momente, wo ich mir gewünscht habe, ich hätte unser Team mal über einen längeren Zeitraum beisammen. Ein Vereinstrainer kann jeden Tag mit einzelnen Spielern oder allen sehr individuell arbeiten.

TAGESSPIEGEL: Sie säßen aber in einem Hamsterrad.

JOACHIM LÖW: Beides ist eine enorme Kraftanstrengung. Vielleicht ist hier bei einem solchen Turnier der Druck noch größer als bei einem Vereinstrainer. Aber als Vereinstrainer kann man schneller korrigieren, auch Ergebnisse.

TAGESSPIEGEL: Aber müssten Sie dann nicht auch den Kompromiss eingehen, alles dem täglichen Erfolg unterzuordnen?

JOACHIM LÖW: Als Trainer sollte man versuchen, eben nicht dem tagtäglichen Erfolg alles unterzuordnen. Man sollte eine Vorstellung haben, eine klare Linie und diese konsequent beibehalten, auch wenn der eine oder andere Erfolg auf sich warten lässt. Diese Einstellung hat vielleicht etwas mit Erfahrung zu tun. Natürlich wollte ich als ganz junger Trainer auch den schnellen Erfolg, und habe mich vom roten Faden wegbringen und mich ablenken lassen. Ich dachte, jetzt musst du mal wieder was ganz Besonderes tun. Aber das lernt man. Man lernt, wie man bei seinen Grundüberzeugungen bleibt und wie man auf dieser Schiene weiterfahren kann, auch wenn es mal irgendwo nicht so läuft.

TAGESSPIEGEL: Könnte für Sie als Bundestrainer diese WM überhaupt noch enttäuschend enden?

JOACHIM LÖW: Am Ende bleiben 31 Nationen zurück. Mit vielleicht mehr oder weniger Enttäuschung. Selbst die Mannschaft, die im Finale verliert, wird erst einmal etwas enttäuscht heimreisen. Aber ich bin schon ein Trainer, der nicht immer alles an den nackten Ergebnissen misst. Oder nur an einem Pokal- oder Titelgewinn. Ich habe erlebt, dass unsere Mannschaft sich in dem, was wir als Drehbuch vorgegeben haben, gut bewegt und umgesetzt hat. Wir haben uns da permanent gesteigert. Die Mannschaft hat das Vertrauen gefunden, dass sie was kann.

TAGESSPIEGEL: Was müsste passieren, damit Sie als Bundestrainer weitermachen?

JOACHIM LÖW: Ich muss mir das nach dem Turnier in Ruhe mal überlegen. Ich habe für alle die Ansage gemacht, an den Präsidenten, über Manager Oliver Bierhoff, alle …

TAGESSPIEGEL: … haben Sie eben Ansage gesagt? Für den Präsidenten?

JOACHIM LÖW: Ja, ich habe gesagt: Ich möchte bitte nicht mit diesem Thema konfrontiert werden. Aber natürlich werde ich damit konfrontiert, von Ihnen, von den Medien. Aber intern möchte ich Ruhe haben. Egal zu welchem Zeitpunkt. Das habe ich lange vor Turnierbeginn gesagt. Ich möchte davon nichts hören. Auch nicht von meinem Trainerstab. Und bislang ist das auch nicht passiert.

TAGESSPIEGEL: Es traut sich keiner.

JOACHIM LÖW: Ja, bislang hat sich keiner getraut. Ich habe gesagt, ich werde mich dazu nicht mehr äußern. Das war für mir eine klare Anweisung an alle in unserem Team: Ich werde nicht mit euch über die Zukunft diskutieren.

TAGESSPIEGEL: Andererseits ist die Nation aus dem Häuschen. Sie brauchten schon gute Gründe, um nicht Bundestrainer zu bleiben.

JOACHIM LÖW: Das ist nett gemeint, aber ich lasse mich auch nicht von der Öffentlichkeit beeinflussen. Für mich ist wichtig, dass ich mir nach dem Turnier mal in aller Ruhe Gedanken mache: Was habe ich für eine Vision? Wie kann es weitergehen? Welche Vorstellungen habe ich? Und wie kann ich die am besten umsetzen? Dann werde ich mit Oliver Bierhof drüber reden, da gibt es ja verschiedene Dinge zu besprechen. Nicht die finanziellen, das können Sie mir glauben.

TAGESSPIEGEL: Sondern?

JOACHIM LÖW: Ich möchte für mich den einen oder anderen Tag Zeit haben, um dann mal wieder gute Gedanken zu fassen. Dann geht es auch darum: Welche Energie habe ich noch? Und welche Begeisterung für die Sache?

TAGESSPIEGEL: Teammanager Bierhoff hat gesagt, er würde nur weitermachen, wenn Sie Bundestrainer blieben. Gilt das auch andersherum?

JOACHIM LÖW: Ich werde mit dem Oliver sprechen und mich darüber unterhalten, was wir gemeinsam tun wollen.

TAGESSPIEGEL: Schalten Sie denn nie ab?

JOACHIM LÖW: Ich brauche nur kurze Entspannungsphasen. Vielleicht bei einem Glas Rotwein am Abend und dann ein paar Seiten lesen.

TAGESSPIEGEL: Inzwischen telefonieren alle übers Internet. Skypen Sie eigentlich auch mit Ihrer Frau?

JOACHIM LÖW: Nein, ich telefoniere völlig altmodisch. Ich werde Ihnen was sagen: Ich habe weder meinen Computer noch den Fernseher in meinem Zimmer auch nur einmal angeschaltet. Seit dem Beginn unserer WM-Vorbereitung Mitte Mai auf Sizilien nicht. Ich will keine derartige Ablenkung.

TAGESSPIEGEL: Was hat Ihre Frau gesagt, als sie die Bilder gesehen hat, wie Sie im Spiel gegen Serbien die Trinkflasche wütend zu Boden werfen?

JOACHIM LÖW: So hat sie mich schon öfter so gesehen. Auch daheim beim Grillen werde ich mal wütend, wenn mir etwas nicht gelingt. Komisch, jetzt heißt es wieder: Der Löw regt sich auf. Das höre ich alle drei oder vier Monate. Dann sagen die Leute zu mir: So kenne ich Sie gar nicht. Aber diese emotionalen Ausbrüche gibt es immer mal. Selbst bei Siegen.

TAGESSPIEGEL: Bei Siegen?

JOACHIM LÖW: Ja, ich kann mich über einzelne Situationen maßlos ärgern. Da kann ich regelrecht aus der Haut fahren.

TAGESSPIEGEL: Sie haben bereits den 5895 Meter hohen Kilimandscharo in Tansania bezwungen, sozusagen als Einstimmung auf die WM in Südafrika. Jetzt wollen sie in die Anden gehen. Eine Einstimmung auf die WM 2014 in Brasilien?

JOACHIM LÖW: Solche Touren muss man lange im Voraus planen. Ich weiß ja nicht, ob ich so viel Zeit habe. Wenn ich Bundestrainer bleibe, geht es nach drei Wochen ja schon wieder weiter.

Das Gespräch führte Michael Rosentritt.

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