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Südafrika: Sechs Farben und ein neues Land

Jetzt weht sie überall: Südafrikas Nationalflagge – zwei Flüsse, die ein Strom werden. Am Ende der Apartheid brauchte man schnell ein neues Symbol. Aber welches? Frederick Brownell hatte den rettenden Einfall.

Am späten Abend des 25. August 1993 sitzt Frederick Brownell an einem Konferenztisch im Tagungstrakt des Schweizer Nationalmuseums in Zürich und unterdrückt ein Gähnen. Es ist der 15. internationale Vexillologen-Kongress, ein Treffen von Flaggenforschern. Brownell hat seinen Vortrag über die Flagge der Digger’s Republic, einer kleine Goldgräber-Kolonie im Herzen Südafrikas, schon hinter sich. Jetzt spricht ein Kollege, und Brownells Gedanken schweifen ab. Er ist hundemüde, er könnte langsam wirklich eine Mahlzeit vertragen. Geistesabwesend bekritzelt er die Rückseite des Vortragsplans mit einem Konferenz-Kugelschreiber.

Dass man Genialität nicht mit Fleiß erzwingen kann, hat Brownell in den drei Jahren zuvor lernen müssen. Er hat nicht gezählt, wie oft er ein frisches Blatt Papier aus seiner Schreibtischschublade genommen und wie oft er es zerknüllt und in den Abfalleimer geworfen hat. 1000, vielleicht 2000 Mal? Manchmal war er schon fast überzeugt, doch seine jüngste Tochter Claire, eine angehende Lehrerin, zweifelte: „Daddy, das ist es noch nicht.“ Frederick Brownell quälte sich durch wache Nächte und zergrübelte Tage – und dann das. Als er schon nicht mehr damit rechnet, an diesem Zürcher Konferenztisch, springt die Idee ihn an: Zwei Flüsse werden ein Strom ... zwei Flüsse werden ein Strom? Das ist es. Eigentlich logisch.

Knapp 17 Jahre später sitzt Brownell in seinem Garten in Pretoria und schiebt eine Kopie des Vortragsplans über den Tisch. Sie zeigt die erste Version der Flagge, die seit 1994 das Symbol des neuen Südafrikas ist. Er präsentiert weitere Vorentwürfe, es ist wie ein „Finde den Fehler“-Rätsel. Mal sind die Farben anders angeordnet, mal kommt von links eine weitere Strömung ins Bild, dann wieder fehlen die weißen Linien zwischen den Farben Blau, Grün und Rot.

Frederick Brownell, hellgraues Haar, hellgrauer Schnurrbart, Brille, lacht wie ein Junge. Er freut sich einerseits, denn in diesen Tagen findet er die wohl größte Bestätigung überhaupt: Das ganze Land ist eine einzige Frederick-Brownell-Werkschau. Überall Flaggen – und er hat sie erfunden. Mal sind sie winzig klein auf Müsli-Packungen, Weinflaschen, und Babybrei-Gläschen, dann riesig groß auf Flugzeugen und Wolkenkratzern und Schallschutzmauern entlang der Autobahn. Tankwarte pinseln sich die sechs Farben auf die Wangen, das südafrikanische Modehaus Edgar’s geriet in die Schlagzeilen, weil es die Flagge falsch herum auf T-Shirts druckte, an jeder Straßenecke im Zentrum von Johannesburg verkaufen fliegende Händler „Mirror-Sokkies“ – Flaggen in Duschhaubenform, die Autobesitzer über die Rückseiten der Außenspiegel ziehen, produziert in China.

Andererseits steckt Brownell in der Klemme. Mit spitzen Fingern zieht er ein Faltblatt aus einer Plastikhülle: „Unsere Flagge – ein Leitfaden zum ihrem respektvollen Gebrauch.“ Er hat die Richtlinien selbst mitgeschrieben. Zum Beispiel darf die Flagge nicht als Tischdecke oder Badematte benutzt werden oder bei Motorrennen zum Einsatz kommen. Ebenso wenig darf man sie überfahren – doch das passiert ja gerade massenhaft, denn die chinesischen Mirror-Sokkies lösen sich im Fahrtwind und fliegen auf die Straße. Auf dem Kopf, wie auf den Edgar’s T-Shirts, sollte sie auch nicht stehen, weil das als Zeichen für Kapitulation gelesen werden kann. Der Leitfaden schließt mit dem Satz: „Falls die Flagge nicht mehr in einem ansprechenden Zustand ist, sollte sie auf würdige Weise vernichtet werden, vorzugsweise durch Verbrennen.“

Wenn Brownell ein Patent auf seinen Entwurf hätte, wäre er wohl der reichste Mann Südafrikas. So aber lebt er mit seiner Frau in einem bescheidenen Vorort von Pretoria, in einer „Gated Community“ an der Gloxinia Avenue. Hohe Backsteinmauern und Elektrozäune begrenzen die Siedlung. Besucher müssen sich anmelden, ein Wächter notiert Handynummer und Kennzeichen, bevor er die Schranke öffnet. Im Garten hinter dem Einfamilienhaus der Brownells wartet ein Sack Holzkohle neben dem Grill auf seinen Einsatz, die Vögel zwitschern, ein Sonnenschirm spendet Schatten, es ist ein Wetter, das Brownell missfällt: Windstille.

Dass er mal im Flaggengeschäft landen würde, hat Frederick Brownell sich lange nicht träumen lassen. Er wuchs auf einer Farm in Bethlehem, dem Herzland der Buren, auf und studierte später Geschichte. Seine Doktorarbeit schrieb er über die Briten, die zwischen 1946 und 1970 nach Südafrika eingewandert sind. Ein Freund machte ihn auf die Anzeige in der „Sunday Times“ aufmerksam: „Die suchen einen stellvertretenden State Herald, wäre das nichts für dich?“ Bis dahin hatte Brownell noch nie von einer Behörde gehört, die Wappen registriert und Flaggen verwaltet. Aber der Posten hatte mit Geschichte zu tun, also bewarb er sich und blieb 25 Jahre dort, bis 2002.

Muss man ein Patriot sein, wenn man eine Flagge erfinden will? „Nein“, sagt der 70-Jährige. „Man sollte nur ein sehr gutes Gefühl haben für das Land, um das es geht.“ Nie würde er sich anmaßen, Entwürfe für ihm fremde Nationen vorzuschlagen. Aber als ihn das Nachbarland Namibia nach der Unabhängigkeit 1990 um Hilfe bat, war er zur Stelle. „Ich schlug eine Diagonale vor, weil es die nicht oft gibt. Da kam ein namibischer Sachverständiger auf mich zu und sagte: Fred, wir brauchen eine Sonne auf der Flagge. Denn egal ob Schwarz oder Weiß: The sun burns the hell out of all of us.“ Deshalb hat die namibische Flagge eine Diagonale und eine Sonne, die von links oben scheint. Und weil die neue namibische Flagge so gut angenommen wurde, traute sich Brownell, über sein eigenes Land nachzudenken. Nelson Mandela hatte gerade das Victor-Verster-Gefängnis mit erhobener Faust verlassen. Als leitender State Herald, der er inzwischen war, musste er vorbereitet sein. Die orange-blaue Flagge der Apartheid-Regierung würde bald von den Masten verschwinden.

Kurz nach dem Zürcher Kongress, von dem Brownell mit seiner Idee im Gepäck nach Pretoria zurückkam, am 7. September 1993, beschloss man die Einrichtung einer Kommission für Nationalsymbole. Die Kommission schrieb einen öffentlichen Wettbewerb aus, jeder Südafrikaner sollte die Chance bekommen, seine Ideen vorzuschlagen. Die Zeit drängte: Einsendeschluss war bereits der 13. Oktober, sechs Tage später sollte die neue Kommission eine Shortlist vorlegen.

Frederick Brownell wurde zum Mitglied der Jury berufen – seinen eigenen Entwurf einzubringen war also unmöglich. Fast schien es, als seien seine Mühen vergebens gewesen. Trotzdem arbeitete er heimlich an der Farbgebung seines Entwurfs. Besonders das Rot bereitete ihm Sorgen. Es durfte weder zu Orange sein, das war der Farbcode der Buren, noch durfte es zu Rot sein, denn das bedeutet Kommunismus. Also mischte er die Pigmente seines Plakafarbkastens, bis er eine Nuance erhielt, die er „Chili“ nannte, internationale Kennzeichnung CKS750c.

7000 Entwürfe landeten auf dem Tisch der Kommission für Nationalsymbole, hätte man sie an eine Wäscheleine gehängt, wäre sie drei Kilometer lang gewesen. Die allermeisten waren bereits auf den ersten Blick unbrauchbar. „Eine Flagge“, erklärt Frederick Brownell, „muss man faxen können. Sie muss bei schlechtem Wetter gut aussehen. Sie muss so einfach sein, dass ein Kind sie zeichnen kann, aber gleichzeitig so individuell, dass man sie nicht mit anderen Flaggen verwechseln kann. Sie muss perfekt sein, wenn sie klein ist, und perfekt sein, wenn sie groß ist.“ Keiner der 7000 Entwürfe aus dem Volk entsprach den Kriterien der Jury. Auch die Medien lehnten die Shortlist rundweg ab, die Stimmung der Öffentlichkeit verschlechterte sich. Dabei hatte man so darauf gehofft, dass ein einfacher Südafrikaner die zündende Idee haben würde, am besten natürlich eine schwarze Frau. Denn das hätte dem Bild der neuen Regenbogennation am besten entsprochen. Man biss die Zähne zusammen. Was nun?

Professionelle Hilfe musste her: Die Kommission beauftragte ein paar einheimische Werbeagenturen, mit schrecklichen Ergebnissen. Vom Zebrafell über ein Stachelschwein bis zum Yin-Yang-Zeichen reichte das Spektrum. Die Verzweiflung wuchs – Ende 1993 war zwar die neue Verfassung fertig, aber immer noch keine neue Flagge in Sicht. Fest stand nur: Sie würde am 26. April 1994 gehisst werden, dem Tag der ersten freien Wahlen.

Am 15. März 1994 kam der Moment, in dem Frederick Brownell es nicht mehr aushielt und seinen Entwurf aus der Aktentasche zog. „Ich war starr vor Angst“, erinnert sich Brownell. „Es war unsere einzige Chance, mehr hatten wir nicht.“ Die Chefunterhändler des Transitional Executive Council (TEC), das Südafrika übergangsweise lenkten, verhandelten schon seit Tagen und Wochen über das neue Land. Im TEC waren auch die Ältesten des früheren Qwa-Qwa-Homelands, ausgesprochen traditionelle Männer, die Brownell in ihrer Sprache Sesotho begrüßen konnte. Vielleicht war es das. Oder es lag daran, dass alle hundemüde waren und endlich etwas zu essen haben wollten. Der Tagesordnungspunkt „Flagge“ war dann jedenfalls überraschend schnell erledigt, niemand meckerte mehr. Alle waren zufrieden, und die Flaggenmacher mussten fortan Tag und Nacht unter Hochdruck produzieren.

Frederick Brownell ist ein bescheidener Mensch. Wenn man ihn fragt, ob er stolz auf den Erfolg seiner Idee ist, antwortet er bloß: „Ich bin erleichtert.“ Er ist es immer noch. Das Gefühl, jemand habe eine große Last von seiner Brust genommen, sei heute ebenso präsent wie damals. Nur manchmal, da piekst ihn der Ehrgeiz. Zum Beispiel vergangene Woche, im Supermarkt. Da hing eine Flagge falsch herum an einem Regal, er konnte nicht anders, als den schlecht gelaunten Inhaber auf den Fehler hinzuweisen. „Wer sind Sie bitte, dass Sie das so genau wissen“, grummelte der. „Ich bin Fred, der Erfinder unserer Flagge.“ Jetzt hängt sie richtig herum.

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