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Sport: Ganz bei sich

Oliver Kahn und die zweite Instanz

Castrop-Rauxel. Es ist noch nicht lange her, dass im Staate Deutschland Sonderliches passierte. Im August war es, am ersten Spieltag der neuen Fußball-Bundesliga-Saison. Die Bayern aus München spielten auf dem Bökelberg in Mönchengladbach, und in Mönchengladbach sind die Bayern reichlich unbeliebt. Im Speziellen gilt das für Oliver Kahn, den Frontmann der Münchner. Diesmal aber wurde der Torhüter von den Anhängern der Gladbacher mit freundlichen Gesängen empfangen. Kahn, dem selten solches widerfährt, muss ganz warm ums Herz geworden sein. Doch seitdem sind drei Monate vergangen, und auf den Tribünen der Bundesligastadien tobt längst wieder der Hass, wenn Kahn im Trikot der Bayern erscheint.

Im Sommer - während und kurz nach der Weltmeisterschaft - war Deutschland noch Kahnland. Inzwischen ist Deutschland wieder Schröderland oder Bohlenland. Kahn, dem einst Göttlichen, sind von aufmerksamen Boulevardjournalisten längst allzu menschliche Verfehlungen nachgewiesen worden: missglückte Abschläge, unterlaufene Flanken und ausschweifende Diskothekenbesuche. Dieselben Zeitungen, die aus dem Bayern-Kahn den Deutschland-Kahn für das ganze Volk gemacht haben, haben aus dem Deutschland-Kahn jetzt wieder den Bayern-Kahn gemacht.

Der Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft hat nicht öffentlich darüber geredet, wie er den Umschwung in der Berichterstattung über seine Person empfunden hat. Er tut das auch an diesem Vormittag nicht, da er in der Stadthalle von Castrop-Rauxel, am Tag vor dem Länderspiel gegen Holland, zur Pressekonferenz erschienen ist. Auf den ersten Blick sitzt da der Deutschland-Kahn von der WM. Doch sein Blick schlendert ziellos durch den Saal. Seine Aussagen sind kurz bis belanglos, und wenn Journalisten ihm eine Frage stellen, schaut er in die andere Richtung, als wolle er seine volle Verachtung demonstrieren. Oliver Kahn, so scheint es, ist wieder bei sich angekommen.

Eigentlich braucht er diese Atmosphäre, das Gefühl, allein gegen alle zu stehen. Für einen Torwart gibt es nichts Größeres, als den Schuss eines Stürmers zu parieren, der ungestört auf ihn zuläuft, der immer größer wird und sich schließlich ganz klein vorkommt. Das Maß an öffentlicher Zuneigung nach der WM hat Kahn möglicherweise irritiert. In dieser Woche ist er nominiert worden für die Wahl zu Europas Spieler des Jahres und für die des Weltfußballers. Ob das Balsam sei für seine geschundene Seele, wurde Kahn gefragt. „Wieso Balsam?“, fragt Kahn. „Das ist das, was ich mir hart erarbeitet habe. Deswegen bin ich verdientermaßen bei diesen Auszeichnungen dabei." Es sind also schöne Tage für Oliver Kahn, auch deshalb, weil er heute Abend gegen die Holländer genau das Spiel bekommen könnte, das er braucht und liebt.

„Die Holländer sind gerade im Sturm bestens besetzt“, sagt er. Für den Torhüter verspricht das also ein recht geselliger Abend zu werden: Kahn gegen van Nistelrooy, Kahn gegen Kluivert und vor allem Kahn gegen Makaay, der in der Champions League für La Coruña drei Tore gegen ihn geschossen hat. Natürlich freue er sich auf so ein Spiel gegen Holland mehr als auf ein Qualifikationsspiel gegen die Färöer, „das ist klar“, sagt Kahn. „Solche Spiele müsstest du viel öfter machen.“ Rudi Völler, der Teamchef der Deutschen, hat „den Jungs noch mal gesagt, dass das natürlich kein normales Länderspiel ist". Vor allem ist es kein normales Freundschaftsspiel. „Das hängt mit der Vergangenheit zusammen“, sagt Völler.

Mit 1974 zum Beispiel, dem WM-Finale, das für die unterlegenen Holländer immer noch eine traumatische Niederlage ist und das die spezielle Fußball-Rivalität beider Länder begründet hat. Oder mit der Revanche von 1988, als die Holländer die Deutschen im Halbfinale der Europameisterschaft 2:1 besiegten. Und natürlich mit dem WM-Achtelfinale zwei Jahre später, als Frank Rijkaard Rudi Völler ins lockige Haupthaar spuckte und beide vom Platz gestellt wurden. „Das wird mich noch bis ins Grab verfolgen“, sagt Völler, der sich längst mit Rijkaard ausgesöhnt hat.

Das Spiel in Gelsenkirchen bezieht aber nicht nur aus der Geschichte seinen Reiz; es könnte für die deutsche Nationalelf vor allem ein Spiel der Ehre werden. Noch immer sieht sie sich dem Vorwurf ausgesetzt, im Sommer nicht ganz zu Recht ins WM-Finale gekommen zu sein. Eine deutliche Niederlage, ein hohes Maß an Hilflosigkeit gegen die als Supertechniker geltenden Holländer könnte hierzulande große Frustrationen auslösen. Völler sagt, es sei wichtig, „dass wir die positive Stimmung nicht verlieren".

Auch deshalb macht Oliver Kahn am Tag vor dem Spiel einen ähnlich entschlossenen Eindruck wie bei der WM. Für ihn als obersten Repräsentanten dieser Mannschaft ist es wie ein zweites Finale: Der Erfolg der Deutschen bei der WM geht gewissermaßen in die Berufungsverhandlung, die Holländer sind die zweite Instanz. Kahn sagt, die Holländer hätten nach den Erfolgen in der EM-Qualifikation verlauten lassen, „erst jetzt im Spiel gegen Deutschland wollen sie sehen, wo sie wirklich stehen". Oliver Kahn will es ihnen zeigen.

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