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Ein Weltmeister für Palermo. Gennaro Gattuso bei seiner Ankunft auf Sizilien.

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Exklusiv

Gennaro Gattuso gegen Hertha BSC: Der Geist des Grätschers

Im Testspiel gegen den italienischen Zweitligisten US Palermo bekommt Hertha die Handschrift des rauen Trainers Gennaro Gattuso zu spüren. Der Weltmeister von 2006 fordert schon mal, dass seine Spieler sich prügeln.

Gennaro Gattuso setzt zur Grätsche an, die Fußsohle nach oben geklappt und trifft bei Hajime Hosogai alles, nur den Ball nicht. Der Fußballer von Hertha BSC wälzt sich schreiend am Boden. Ein Foul, das das Blut in den Adern gefrieren lässt, wenn schon keines vergossen wurde. Ein Wunder, dass der Berliner sich dabei nicht verletzt und ein noch größeres, dass Gattuso dafür nur die Gelbe Karte sieht. Aber das größte Wunder ist, dass es gar nicht Gattuso war, der das Foul beging.

Der härteste Fußballer seiner Generation, der einst mit Italien den Weltmeistertitel 2006 erkämpfte, steht mittlerweile an der Seitenlinie, als Trainer des US Palermo. Doch Gattuso tobt und brüllt derart laut, dass sein Geist entwichen und in den Körper des Slowenen Armin Bacinovic gefahren sein muss, der Hosogai fällte wie Gattuso in rauester Zeit.

Herthas Trainer Jos Luhukay springt auf, schreit zur anderen Trainerbank: „Gattuso, was spielt ihr denn da?!?“ Doch Gattuso zuckt nur mit den Schultern. Luhukay rennt auf den Platz, die Zuschauer protestieren, Spieler schubsen einander. Für einen Moment scheint es, als müsste das Spiel abgebrochen werden, um Leib und vielleicht auch Leben zu schützen. Derart zügellos treten die von Gattuso fanatisch angefeuerten Italiener in der ersten Halbzeit um sich.

Aber das Spiel geht weiter. Am Ende gewinnt Hertha das Testspiel am Dienstagabend in Kapfenberg 2:1. Doch Luhukay sagt: „Ich hatte Angst um die Gesundheit meiner Spieler. Wer ihnen zu nahe kommt, der kommt mir zu nahe.“ Am Ende trägt nur Stürmer Sandro Wagner mehr als Schmerzen davon, eine Prellung am Sprunggelenk, nichts Ernsthaftes.

Die Berliner Spieler humpeln schon Richtung Bus, als Gennaro Gattuso noch mit den Händen in den Taschen am Spielfeldrand steht. Es darf wohl gesagt werden, dass selten eine Mannschaft so die Handschrift ihres Trainers erkennen ließ wie Palermo. „Wir haben übertrieben, da waren zwei hässliche Fouls dabei“, untertreibt er, die tiefe Stimme noch heiser, „aber das ist Fußball, Ragazzi, sonst müssen wir den Sport wechseln und nur noch Mädchen spielen lassen.“

Die italienischen Journalisten, die Gattuso umlagern, lachen. Sie umschwärmen ihn regelrecht, den Weltmeister, den zweimaligen Champions-League-Sieger. Wie er da steht, stämmig und halslos, dunkler Bart und dunkle Augen, auch wenn die Schläfen ergrauen, sieht der 35-Jährige aus wie früher: als noch nicht ein schwarz-rosa Polohemd über der fast quadratischen Brust spannte, sondern das blaue Trikot der Nationalmannschaft oder das schwarz-rote des AC Mailand.

Gattuso ist eine Figur, so widersprüchlich wie Italien

Zuletzt war Gattuso Spielertrainer, beim Schweizer Erstligisten FC Sion. Nun bringt er Glanz nach Sizilien, selbst in Palermos Saisonvorbereitung in Österreich. Eine junge Frau mit Presseausweis holt sich ein Autogramm. Die Reporter überschlagen sich mit schmeichelnden Fragen: Hätten Sie das Spiel nicht gewinnen müssen, erklären Sie ihre Taktik, wurde nicht ein Tor wegen Abseits fälschlicherweise verweigert? „Das muss mir der Schiedsrichter noch einmal erklären“, krächzt Gattuso mit einer Gewissheit, die hoffen lässt, dass der Schiedsrichter schon in Sicherheit ist.

„Ich bin stinksauer, solche Spiele darf man nicht verlieren“, sagt er scharf. „So etwas gab es nicht, als ich gespielt habe. Auch meine Mannschaft muss sich ans Gewinnen gewöhnen.“ So wie er, früher. Seine Mannschaft dagegen ist gerade aus der Ersten Liga abstiegen. „Sie hat viele Ohrfeigen bekommen.“ Nun bekommt sie die von ihm. „Ich werde bestimmt nicht in die Kabine gehen und Komplimente verteilen. Ich spreche gar nicht so viel mit ihnen, sie sehen alles in meinen Augen.“ Darin liegt nicht nur Finsternis, auch Funkeln.

Gattuso ist eine Figur, so widersprüchlich wie Italien. Gegnerische Fans verabscheuten ihn und wünschten sich zugleich, er würde für ihre Mannschaft spielen. Auch die Deutschen machten mit ihm Bekanntschaft, als er 2006 im Halbfinale das Sommermärchen mit beendete. In Italien sagen manche spöttisch, der Mensch stamme vom Gattuso ab. Der Mittelfeldspieler war rabiat, rücksichtslos, aber erfolgreich. Das bewundern wiederum die Italiener und fragen selten, wie der Erfolg zustande gekommen ist.

Doch wie Italien kann er herzlich sein wie kein Zweiter. Vor dem Spiel umarmt er Nello di Martino, Herthas Teammanager, der auch die italienische Nationalmannschaft 2006 betreute. „Großartiger Junge“, schwärmt di Martino. Gattuso betreibt eine Stiftung für Kinder in seiner kalabrischen Heimat, in Mailand war er einer der wenigen Spieler, der sich vom Politikerpräsidenten Silvio Berlusconi distanzierte. Mit dem Trainerkollegen Luhukay dagegen posiert Gattuso vor dem Spiel für ein Erinnerungsfoto. Und zur Halbzeit des Spiels legt Gattuso seinen Arm um Luhukay und tätschelt ihm die Wange, eine Entschuldigung für die Härte, die überheblich aussieht. Immerhin halten sich seine Spieler in der Zweiten Halbzeit zurück, Gattuso hat sie zurückgepfiffen. Er selbst tigert 90 Minuten pausenlos die Seitenlinie entlang und brüllt Kommandos, Arme und Beine gespannt, wie ein Raubtier, bereit zum Angriff.

„Ich will immer Aggressivität“, sagt Gattuso reibeisern. „Ich will einen totalen Fußball, der läuft, angreift - und auch mal prügelt, wenn es sein muss.“ Die Journalisten lachen.

Fußballer wie ihn gibt es heute gar nicht mehr, außerhalb Palermos jedenfalls. Moderne Systemspieler laufen Bälle und Standpunkte geschickt ab, da ist nichts Doppeldeutiges mehr. Doch wenn der Mensch vom Gattuso abstammt, dann hilft ein Blick auf den Ahnen, ob die Evolution des Fußballs in die richtige Richtung geht. Zumindest geht sie Richtung gesünderer Knochen.

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