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Sport: Genug gewartet

Sebastian Deisler ist wieder da – zum rechten Zeitpunkt?

Reykjavik. Sebastian Deisler nahm einen langen Anlauf für seine erste Ballberührung nach 476 Tagen. Es war 18.57 Uhr Ortszeit, als er vor der Westtribüne des isländischen Nationalstadions den Rasen betrat, einmal den Platz längs der Mittellinie überquerte, um vor der Gegentribüne einen Freistoß auszuführen. Normalerweise nimmt sich ein Einwechselspieler erst einmal ein wenig Zeit, um sich mit Spiel und Gegner vertraut zu machen. Aber Deisler schritt gleich zur Tat und trat auch fortan für die deutsche Nationalmannschaft alle Freistöße und die Eckbälle von der rechten Seite. Deisler hat schließlich lange genug gewartet.

476 Tage ist es her, dass der Mittelfeldspieler zuletzt das Trikot der Nationalmannschaft getragen hat. Im letzten WM-Testspiel war Deisler mit dem Österreicher Rolf Landerl zusammengestoßen und hatte sich einen Knorpelschaden im Knie zugezogen. Seitdem hat er gefehlt, und seitdem hat sich vieles verändert: Deisler, inzwischen 23 Jahre alt, spielt jetzt für Bayern München. Sein Körper ist massiger geworden, er trägt die Haare kurz und einen Bart um die Lippen, er wird bald Vater, hat sich von seinem Berater getrennt, und die Dauerdiskussion um die Stabilität seines häufig verletzten Knies hat ihn misstrauischer werden lassen. Der Junge, den die „Bravo“ einmal zum Popstar machen wollte, verkündet der Welt jetzt pseudo-esoterische Weisheiten wie: „Morgen geht wieder die Sonne auf.“ Und offensichtlich meint er das nicht mal ironisch.

Seitdem Deisler professionell Fußball spielt, lebt er mit dem Auftrag, ein Hoffnungsträger zu sein. Als er 18 war, sollte er Borussia Mönchengladbach vor dem Abstieg retten. Das Unternehmen scheiterte, und Deisler wechselte nach Berlin zu Hertha BSC, wo er dazu ausersehen war, der zentrale Baustein für eine glorreiche Zukunft des Klubs zu werden. So lange, bis Deisler zu den Bayern ging. Dass er auch noch die Nationalmannschaft nach der dunklen Ribbeck-Ära zurück ans Licht führen sollte, war für die dünnen Beine des Sebastian Deisler wohl ein bisschen zu viel.

Eigentlich wollte der scheue Junge nämlich immer nur eines: Fußball spielen, und wenn er das nicht konnte, gesund werden. Aber es ist, als treibe jemand ein übles Spiel mit Deisler. Je mehr er sich gegen die Ansprüche der Öffentlichkeit wehrt, desto größer werden sie. Als Deisler wegen seiner Knieverletzung nicht spielen konnte, hat ihn niemand vermisst. Die Deutschen sind ohne ihn Vizeweltmeister geworden; kaum aber ist Deisler fit, steckt die Mannschaft in einer Situation, in der sie wieder einen Hoffnungsträger braucht. Deisler vielleicht? „Ich bin froh, dass der Sebastian wieder dabei ist“, hat Völler nach dem 0:0 gegen Island gesagt. „Er hat einen ganz ordentlichen Einstand gehabt.“

Es scheint, als habe sich die Nationalmannschaft in den vergangenen 15 Monaten einmal im Kreis gedreht. Für Sebastian Deisler ist das alles kein Grund zur Sorge. „Am Mittwoch haben wir ein Spiel, und dann werden wir es allen zeigen“, hat Deisler am Samstagabend gleich mehrmals gesagt. Der Hoffnungsträger trägt ganz offensichtlich noch Hoffnung in sich.

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