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Sport: Gesamtkunstwerk mit Mängeln

Tim Montgomery besetzt die Rolle als schnellster Mann der Welt, aber er füllt sie nicht richtig aus

Berlin. Maurice Greene blickte in den strahlend blauen Himmel. Er hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt, zwei Sekunden lang sagte er gar nichts, und dann lächelte er süffisant. Und damit hatte die Geste endgültig etwas Abfälliges. So war sie wohl auch gemeint. Maurice Greene sollte über Tim Montgomery reden, seinen Erzrivalen. Aber einer wie Montgomery spielt nicht in Greenes Liga, das signalisiert diese Geste. Der Starsprinter Greene ist fünfmaliger Weltmeister, er ist zweimaliger Olympiasieger, und Montgomery? Montgomery ist am Mittwoch in Stockholm 10,39 Sekunden über 100 m gelaufen. Ein Debakel, er wäre am liebsten nach Hause, in die USA gejettet, um Abstand zu gewinnen zu dieser Zeit, bevor er heute (14 Uhr, Jahn-Sportpark) über 100 m startet, im Einzel und in der Staffel. Greene sollte diese Zeit von Stockholm einschätzen. Und er sagte nach dieser demütigenden Pause: „Ach Gott, so ist Tim Montgomery halt.“ Er ist halt kein Großer. So kam das rüber.

Er ist doch ein Großer, dieser Tim Montgomery, er hält mit 9,78 Sekunden den Weltrekord über 100 m, die prestigeträchtigste Bestmarke der Leichtathletik. Vor ihm hatte Greene den Rekord. Und der hat Montgomery nie vergeben, dass er ihm diese Marke weggenommen hat.

Tim Montgomery aus Gaffriey, South Carolina, war besessen von dem Wunsch nach diesem Weltrekord. Er war ja nie weit davon entfernt. 9,84 Sekunden lief er 2002 in Oslo, er ist auch seit Jahren in der Szene, immer in den Finals, aber seine größten Erfolge erzielte er dort, wo er automatisch im Schatten der anderen stand. Er wurde Weltmeister (1999, 2001) und Olympiasieger (2000), aber immer mit der Staffel, und in der ragte der Selbstdarsteller Greene heraus. Ein bisschen fiel auch noch Jon Drummond auf, weil er immer die meisten Faxen machte. Er hatte die Rolle des Spaßmachers. Montgomery hatte keine Rolle, keine auffällige jedenfalls. Nur außerhalb des Sports hatte er eine. „Früher habe ich mich wie ein Rockstar benommen. Ich habe mich nachts bis drei Uhr in Bars herumgetrieben. Ich war pleite, aber habe Geld ausgegeben, als wäre ich reich“, erzählte er bei der WM 2001 Journalisten. Aber bei dieser WM wurde er nur Zweiter, wieder war Greene über 100 m schneller.

Doch Montgomery sprach immer wieder von den 9,75 Sekunden, die er bald laufen wollte. Das wäre Fabelweltrekord. Es war, als hätte er nach Sydney 2000 eine neue Rolle gesucht. Er inszenierte sich plötzlich als den aggressiven Typ, der mal so richtig aufräumt auf der Tartanbahn. Vor den US-Trials 2002 verkündete der Sprinter, er, Tim Montgomery, sei „im Krieg mit Maurice Greene“. Er werde dieses Großmaul jagen. Er werde ihm diesen Weltrekord schon abjagen. Und vor dem WM-Finale 2001 erklärte er: „Das Duell mit Greene wird eine Schlacht wie früher zwischen Carl Lewis und Ben Johnson.“ Der Ausgang ist bekannt.

In der Szene glaubten ihm viele diese Sprüche nicht. Sie passten nicht zu ihm, jedenfalls nicht zu dem Typ, den sie auf dem Sportplatz sahen. Montgomery ist einfach zu ruhig für solche Sprüche. Er grüßt jeden freundlich oder sitzt in sich versunken auf dem Rasen. Greene lebt seinen Status als Star aus, Montgomery täuscht ihn nur vor, sagen die Leute aus der Szene.

In der Nacht vor dem Rennen gegen Greene bei den US-Meisterschaften 2002 konnte er vor Aufregung nicht schlafen. Dann lief er gegen Greene, er lief exzellente 9,89 Sekunden, aber er lief zu langsam. Der Weltrekordler war eine Hundertstelsekunde schneller. Montgomery sagte nach dem Rennen zu Journalisten, er habe sich „offenbar zu viel Druck gemacht“. Er sei besessen von Greene. Vermutlich macht er sich diesen Druck immer noch. Und vielleicht hat Greene deshalb auch Recht, wenn er signalisiert, dass Montgomery nicht wirklich ein Großer ist. Denn viel spricht dafür, dass der 28-Jährige in Stockholm wieder am Druck gescheitert ist. Ein Weltrekordler hat so etwas wie ein Gesamtkunstwerk zu sein. Schnell, ausdrucksstark, einschüchternd, cool bis zur Arroganz. Er hat, verdammt noch mal, ein echter Star zu sein. Das erwarten die Gegner, für die es würdelos wäre, wenn sie einen sensiblen Typ jagen würden, das erwarten Fans und Medien. Aber Montgomery hat in diesem Jahr seinen Status nie bestätigt. 10,04 – 10,15 – 10,26 – 10,39 – das sind seine Saisonzeiten. Am Freitagabend lief er beim Meeting in London 10,13 Sekunden. Aber damit kam er nicht mal ins Finale.

Es kann ja sympathisch sein, dass er nicht fehlerlos läuft wie ein Roboter. Ein Sprinter, der ständig unter 10,00 Sekunden läuft, weckt sogar viel Argwohn. Aber Montgomery ist ja oft genug nicht mal in der Nähe dieses grenzwertigen Bereichs. Ein Weltrekordler , der Respekt einfordert, kann sich so etwas nicht erlauben.

In zwei Wochen findet die WM in Paris statt, dort kann Montgomery beweisen, dass er ein würdiger Weltrekordler ist. Dort wartet Maurice Greene auf ihn. Greene sagt: „Mir ist egal, was vor der WM passiert, ich konzentriere mich ganz auf Paris.“ Er lächelt nicht mehr, als er das sagt. Er schaut auch nicht in den Himmel. Er blickt sehr konzentriert. Montgomery wird diesen Blick noch oft genug sehen. Und spätestens vor dem WM-Finale muss er ihm standhalten.

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